Christus – von Gott verlassen (FMN)

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Wenn wir uns mit der Tatsache befassen, dass Christus am Kreuz von Gott verlassen war, müssen wir uns zuerst eins bewusst machen: Die Szene auf Golgatha erfordert größte Ehrfurcht von uns. Wir können nicht über die Leiden des Herrn Jesus sprechen wie über alltägliche Dinge. Es gehört sich eine Haltung, wie Gott sie von Mose forderte: „Ziehe deine Schuhe aus von deinen Füßen, denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliges Land" (2. Mo 3,5).

Der Weg zum Kreuz

Am Abend vor der Kreuzigung hatte der Herr Jesus in Gethsemane auf dem Boden im ringenden Gebet zu Gott, seinem Vater, gelegen. Dort hatte vor Ihm in aller Schrecklichkeit das Zur-Sünde-werden, das Verlassenwerden von Gott und der bevorstehende Tod gestanden. Das alles hatte Ihn „bestürzt und beängstigt" und „betrübt bis zum Tod" werden lassen (Mk 14,33.34). Anschließend war Judas Iskariot mit Soldaten gekommen und Christus war gefangen genommen worden. Dann wurde Er mehrfach verhört, gegeißelt und schließlich gekreuzigt.

Bisher hatten nur die Menschen gehandelt. Bis hierhin war es „ihre Stunde und die Gewalt der Finsternis" (Lk 22,53) gewesen. Doch dann lesen wir in Matthäus 27,45: „Aber von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde". Es klingt wie ein Gegensatz - bis dahin stand das Handeln der Menschen im Vordergrund, jetzt kam etwas völlig anderes.

Die Stunde Gottes

Denn jetzt kam die Stunde Gottes. Jetzt rechnete der heilige Gott mit der Sünde und mit unseren Sünden ab - aber nicht an uns, sondern an Ihm, seinem einzigartigen, vollkommenen Sohn! An Ihm, dem Reinen, der Sünde nicht kannte (2. Kor 5,21), in dem keine Sünde war (1. Joh 3,5) und der keine Sünde tat (1. Pet 2,22). Ob wir jung sind oder alt und schon lange auf dem Glaubensweg - das lässt uns in großer Bewunderung und mit Anbetung nach Golgatha blicken.

Die Evangelien berichten nichts darüber, was in diesen drei Stunden wirklich geschah. Wir wissen, dass das ganze Land unter einer tiefen, übernatürlichen Finsternis lag 1. Andere Stellen der Bibel sagen uns, dass Christus in dieser Zeit - und nur in dieser Zeit! - mit unseren Sünden beladen war (Heb 9,28; 1. Pet 2,24) und Gott Ihn sogar zur Sünde gemacht hat (2. Kor 5,21). Erst am Ende dieser furchtbaren Leiden hören wir den Heiland diesen Ausruf tun, mit dem wir unseren Artikel begonnen haben. Diese Frage soll uns noch etwas beschäftigen.

Unergründliche Frage

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Eine unergründliche Frage, die Christus Wort für Wort aus dem 22. Psalm zitiert. Eine Frage, die ausschließlich auf Christus zutrifft, da David nie von Gott verlassen war. Eine Frage, vor der wir stehenbleiben müssen, die einzigartig dasteht in der Ewigkeit. Eine Frage, über deren einzelne Worte es sich lohnt, nachzudenken.

„Mein Gott, mein Gott":

Er sagt „mein" Gott. Wer mehr als Er konnte von „seinem" Gott sprechen? Er hatte Ihn von Kindheit an nur geehrt und verherrlicht, war seinem Gott immer vollkommen gehorsam gewesen! „Auf dich bin ich geworfen von Mutterschoß an, von meiner Mutter Leib an bist du mein Gott" (Ps 22,11).

Christus spricht Ihn als seinen „Gott" an. Während seines Lebens und Dienstes auf dieser Erde, im ringenden Kampf in Gethsemane und auch am Kreuz in den ersten drei Stunden (von der dritten bis zur sechsten Stunde) und nach den drei Stunden der Finsternis hatte Er Gott immer nur als seinen „Vater" angesprochen (vgl. Lk 2,49; Joh 16,32; Mk 14,36; Lk 23,34.46). Dies zeigt, dass der Herr Jesus hier als unser Mittler vor Gott tritt, mit unseren Sünden beladen, um sie zu sühnen. Jetzt hat Er es mit dem heiligen Gott zu tun, daher nennt Er Ihn „Gott" und nicht „Vater". Hier steht jetzt nicht seine Beziehung zu seinem Vater im Blickpunkt - auch wenn sie auch jetzt weiter bestand -, sondern Gott in seinem heiligen Wesen. .

Durch die Wiederholung des „Mein Gott" bringt der Heiland außerdem etwas von der Tiefe und Intensität zum Ausdruck, mit der Er Gott anspricht. Ja, Er rief in größter Not!

„warum?": Das „warum" ist das zentrale Wort seiner Frage. Ja, warum? Zunächst müssen wir sagen, dass Christus als der Allwissende die Antwort kannte. Aber drückt Er hier nicht - ähnlich wie bei seinem Gebet in Gethsemane - als vollkommener Mensch etwas von seinen Empfindungen aus, ein unergründlich tiefes, „menschliches" Fragen?

Doch daneben kann auch jeder Gläubige auf dieses „Warum" eine Antwort geben. Der Herr Jesus wurde unsertwegen von Gott verlassen, damit wir niemals von Gott verlassen sein und diesen furchtbaren Zustand des Verlassenseins von Gott erfahren müssen! Und doch - auch wenn wir die Antwort kennen, kann niemand ermessen, was es wirklich bedeutet, von Gott verlassen zu sein.

Warum? Weil Er meine und Deine unzähligen Sünden, alle unseren bösen Gedanken, Taten und Worte vor Gott trug, als habe Er sie selbst verschuldet. Wie muss Er an seiner heiligen, reinen Seele gelitten haben, den ganzen Schmutz und Dreck unserer Sünden zu tragen und dafür gestraft zu werden!

Warum? Weil Gott darüber hinaus die Sünde selbst, den Charakter des alten Menschen, dieses böse, Gott widerstreitende Prinzip an Ihm gerichtet hat. Gott verurteilte die Sünde im Fleisch (Röm 8,3), das heißt, in dem Menschen Jesus Christus, und machte Ihn, der Sünde nicht kannte, zur Sünde (2. Kor 5,21). Der Herr Jesus war in dieser Zeit in Gottes Augen die Sünde! Wir würden dies nicht wagen auszusprechen, wenn Gottes Wort es nicht sagte. Der Herr Jesus trug also nicht nur die Strafe für unsere Sünden, sondern auch das Gericht über die Sünde und den Lohn der Sünde, den Tod (Rö 6,23).

„...hast du...": Man könnte hier auch das „du" betonen. Der Herr fragt, warum Gott Ihn verlassen hat. Gott, dem Er ununterbrochen vollkommen gedient hatte. Vorher lesen wir, dass die Jünger Ihn alle verließen und flohen (Mt 26,56). Aber Gott, auf den Er seit seiner Menschwerdung vertraut hatte, dem Er nur gehorsam gewesen war - gerade Er verließ Ihn? Das zeigt uns, wie vollkommen heilig Gott ist, der Sünde nicht sehen kann und auch seinen eigenen Sohn nicht schonen konnte (Rö 8,32). Wir sehen zudem, dass Christus wirklich vor Gott zur Sünde gemacht wurde - unfassbar!

„...mich...": Nie war ein Mensch von Gott verlassen gewesen. Auch David war, wie wir schon gesehen haben, nie wirklich von Gott verlassen worden. Sonst hätte er nicht einen Psalm später schreiben können: „Auch wenn ich wanderte im Tal des Todesschattens, fürchte ich nichts Übles, denn du bist bei mir" (Ps 23,4) und: „Nie sah ich den Gerechten verlassen" (Ps 37,25). Aber gerade Ihn, diesen Einen, Vollkommenen, Reinen verließ Gott wirklich. Dies geschah unserer Sünde wegen, die auf Ihm lag.

„...verlassen"?: Man spricht unter den Menschen oft von einem „gottverlassenen Ort". Aber das ist nur menschliches Gerede. Kein Mensch kann ermessen, was es wirklich bedeutet, von Gott verlassen zu sein. Gott hätte aber allen Grund gehabt, uns zu verlassen - unserer Sünde wegen. Aber Christus war der einzige Mensch, der Anspruch darauf gehabt hätte, nicht von Gott verlassen zu werden - und wurde von Ihm verlassen.

Der Heiland war in dieser Zeit ganz allein. Gott wandte sich von Ihm ab, weil Gott zu rein ist von Augen, um Sünde zu sehen (Hab 1,13). Wir können jederzeit zu Gott rufen und beten, wenn wir in Not sind. Bei Christus war es anders in diesen furchtbaren drei Stunden. Wir lesen in den Klageliedern zwei erschütternde Verse, die darauf hinweisen: „Du hast dich in eine Wolke gehüllt, so dass kein Gebet hindurchdrang" (Klgl 3,44); und: „Wenn ich auch schreie und rufe, so hemmt er mein Gebet" (Klgl 3,8). In diesen drei Stunden konnte es keine Verbindung, keine Gemeinschaft zwischen Ihm, dem mit Sünde Beladenen, und dem heiligen Gott geben - wiewohl Er andererseits auch der Heilige war.

Keine Antwort

Wir lesen nichts von einer Antwort aus dem Himmel. Vorher hatte Gott schon mehrmals den Himmel geöffnet und sein Wohlgefallen über den Sohn ausgedrückt: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe" (Mt 3,17; 17,5; Mk 9,7; Lk 9,35). Und als Er sonst rief, kam sofort die Antwort: „Vater, verherrliche deinen Namen! Da kam eine Stimme aus dem Himmel: Ich habe ihn verherrlicht und werde ihn auch wiederum verherrlichen" (Joh 12,28). Aber jetzt kam keine Antwort aus dem Himmel, so vollständig verlassen war unser Heiland in diesen Augenblicken. So furchtbar ist die Sünde in den Augen Gottes, dass Gott hier seinem Sohn die Antwort verweigerte. Gott schwieg.

Doch eine Antwort?

Wir haben uns schon daran erinnert, dass der Gläubige doch eine Antwort kennt. Die Frage ist aber auch, ob wir eine Antwort geben. Damit meine ich nicht, dass wir tatsächlich die Frage des Herrn Jesus beantworten, sondern dass unser Leben eine Antwort auf diese Frage ist. „Herr, wie kann ich danken dir für Golgatha? Will Dich lieben durch mein Leben!" so heißt es in einem Lied. Es bedeutet, dass unser Leben eine Antwort darauf ist, dass Er von Gott verlassen wurde. Sozusagen eine Konsequenz aus Dankbarkeit - als würden wir sagen: „Du wurdest für mich von Gott verlassen, um mich von der Sünde zu befreien. Deswegen soll Dir mein Leben gehören, meine Antwort darauf soll ein Leben des Gehorsams und der Weihe sein."

Ist Er, der in die tiefsten Tiefen der Leiden ging, ja, Dein und mein Retter, es nicht wert?

Buchempfehlungen: John Nelson Darby: Die Leiden Christi; W. J. Hocking: The Cry oft he suffering Christ (Psalm 22)

Folge mir nach - Heft 8/2014

Fußnoten

  • 1 Diese Finsternis war übernatürlich. Eine totale Sonnenfinsternis dauert normalerweise höchstens 10 Minuten. Außerdem konnte zu dieser Zeit keine Sonnenfinsternis entstehen, denn diese findet immer bei Neumond statt, das heißt an dem Tag, an dem die jüdischen Monate beginnen. Das Passah fand aber am 14. Tag im Monat Abib statt, also bei Vollmond.
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