Mit weitem Herzen auf schmalem Weg Kapitel 1: Das Bewahren der Einheit des Geistes

Lesezeit: 17 Min.

Diese Frage berührt zweifellos einen der schwierigsten Themenkreise unter Christen, sind doch auf kaum einem anderen Gebiet der christlichen Wahrheit die eingetretenen Entwicklungen in derartigem Widerspruch zu den Gedanken Gottes wie auf diesem. Sicherlich empfindet jedes Kind Gottes mehr oder weniger, dass die Erlösten eigentlich alle denselben christlichen Weg gehen sollten. Im Himmel jedenfalls werden sie vollkommen eins sein, dort wird es keine Trennungen geben. Doch ein Blick in die Christenheit macht auf schmerzhafte Weise deutlich, dass die Einheit der Gläubigen, wie Gott sie zu Anfang geschaffen hat, heute nach außen hin gänzlich zerstört ist.
Was ist angesichts dieser Entwicklung zu tun? Lässt uns Gott in dieser Situation ohne Antwort, ohne Hilfe? Mit Sicherheit nicht! Gottes Wort gibt uns auf alle Fragen eine Antwort, auch auf die, mit der wir uns jetzt befassen wollen. Und Er weist uns einen Weg, auf dem. wir auch in Zeiten größten Verfalls gehen können.
Nun geht zwar der Epheserbrief nicht vom Verfall in der Christenheit aus. Er schildert uns vielmehr den Ratschluss Gottes in bezug auf Christus und die Versammlung, und da ist alles vollkommen und unantastbar. Aber die praktischen Ermahnungen, die Gott in Verbindung damit damals den Gläubigen in Ephe-sus gab, sind für alle Zeiten gültig und anwendbar. Die Zeiten, die Umstände haben sich geändert, gewiss, nicht aber die Gedanken Gottes.
In diesem Bewusstsein wollen wir uns nun den Worten zuwenden, mit denen der Apostel Paulus in seinem Brief an die Gläubigen in Ephesus die Ermahnungen einleitet. Sie führen uns direkt zu unserem Gegenstand.
„Ich ermahne euch nun, ich, der Gefangene im Herrn, dass ihr würdig wandelt der Berufung, mit welcher ihr berufen worden seid, mit aller Demut und Sanftmut, mit Langmut, einander ertragend in Liebe, euch befleißigend, die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens" (Eph 4,1-3).

Was ist unsere Berufung?

Wenn wir der Berufung würdig wandeln sollen, mit der wir berufen worden sind, müssen wir zuerst einmal die Berufung selbst kennenlernen. Das ist der Gegenstand des zweiten Kapitels, den ich jetzt allerdings nur kurz berühren kann. Er ist indes eines eingehenden Studiums wert. Dort wird uns in den Versen 11-22 gezeigt, dass als eine gesegnete Folge des Kreuzes Christi die „Zwischenwand der Umzäunung", die bis dahin Juden und Nationen voneinander trennte, weggetan worden ist. Nichts Geringeres war nämlich die Absicht Gottes als dies: die Gläubigen aus den Juden und den Nationen zu einem neuen Menschen zusammenzufügen und sie zu einem heiligen Tempel im Herrn, einer Behausung Gottes im Geiste zu vereinen. Das sind die beiden herrlichen Seiten der Berufung Gottes, mit der alle wahren Kinder Gottes berufen worden sind: Glieder eines Leibes, des Leibes Christi, zu sein und die Behausung Gottes zu bilden, und dort zu wohnen, wo Gott wohnt. Unermessliche Segnung! Und wenn wir bedenken, woher Gott die Gegenstände dieser Berufung genommen hat, dann wird das alles noch wunderbarer. Wir waren zuvor tot für Gott, tot in unseren Vergehungen und Sünden und waren von Natur, wie alle übrigen auch, Kinder des Zorns (Verse 1-3). Nur reine Gnade konnte solche, die ohne Christus, ohne Hoffnung, ohne Gott in der Welt waren, so nahe bringen (Vers 13).

Würdig wandeln

Wenn wir diese beispiellose Gnade bedenken, die uns von Gott zuteil geworden ist, was für ein praktisches Verhalten geziemt sich dann für uns? Demut und Sanftmut, mit Langmut, einander ertragend in Liebe! Der Ermahnung, die Einheit des Geistes in dem Bande des Friedens zu bewahren, schickt der Heilige Geist die Ermahnung zu diesen Tugenden voraus. Wie sehr haben wir darin versagt, diese Züge zu offenbaren, gerade wenn es darum ging, den rechten christlichen Weg zu finden und zu gehen! Das kann uns nur tief demütigen. Und doch glaube ich, dass es uns verhältnismäßig leicht würde, Demut und Sanftmut, Langmut und Liebe zu zeigen, wenn wir mehr die Gnade Gottes vor Augen hätten, die uns nicht allein aus der Ferne geholt hat, sondern uns auch jetzt noch beständig nachgeht und uns zurechtbringt.
Es ist jedoch weder Demut noch Sanftmut, wenn man den Aussagen des Wortes Gottes Zweifel entgegenbringt oder wenn man eine von Gott geschenkte Stellung nicht einnehmen will. Auch ist es nicht Langmut und Liebe, wenn man das Falsche oder Böse in dem anderen einfach übersieht. Wahre christliche Liebe gibt stets Christus den ersten Platz. Wo aber der Gemeinschaft der Gläubigen ein höherer Stellenwert beigemessen wird als der Ehre des Herrn und Seinen Anrechten, hat sie ihren eigentlichen Charakter bereits eingebüßt und bestenfalls einer natürlichen Zuneigung Platz gemacht. Und bedenken wir: Nirgends ruft die Wirksamkeit des Eigenwillens des Menschen so verheerende Folgen hervor wie in der Versammlung Gottes.
Als Glieder des Leibes Christi sind wir durch die Gnade Gottes zum Einssein mit Christus, dem Haupt, und mit den einzelnen Gliedern berufen worden. Wenn wir dieser Berufung würdig wandeln wollen, müssen wir auch der nächsten praktischen Ermahnung entsprechen: „ . . . euch befleißigend, die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens".
Was bedeutet „Einheit des Geistes"? Nun, eines bedeutet dieser Ausdruck mit Sicherheit nicht - die Einheit unserer Geister. Nicht Zusammenschlüsse aufgrund gemeinsamer Ansichten, Meinungen oder Glaubensbekenntnisse sind der Weg Gottes für uns. Vielmehr stellt Er jene kostbare Einheit vor unsere Blicke, die durch den Heiligen Geist bewirkt wird und ihrem Grundsatz nach alle Glieder des Leibes Christi umfasst. Eine andere Einheit kennt und anerkennt Gottes Wort nicht. Was ist der Wert jeder anderen Einheit? Sie wird sich nie über ihren menschlichen Ursprung erheben.
Die Einheit des Geistes bewahren heißt nicht, sie zu machen, sondern sie zu beobachten oder aufrechtzuerhalten. Es ist die praktische Verwirklichung der Wahrheit, dass da ist „ein Leib und ein Geist", und bedeutet in der Praxis unseres Lebens keine andere Gliedschaft anzuerkennen als nur die, die durch den Geist Gottes ist; das heißt, die Einheit des Geistes zu bewahren.
„Die Einheit des Geistes" ist also jene Kraft und jener Grundsatz, mittels derer die wahren Kinder Gottes in die Lage versetzt werden, entsprechend ihren eigentlichen Beziehungen in der Einheit des Leibes Christi gemeinsam den Weg zu gehen. Sie zu bewahren ist die sittliche Verwirklichung dieser Einheit, oder anders ausgedrückt, ist die Aufrechterhaltung unserer Beziehungen zu allen Heiligen gemäß dem Geist Gottes.

Nicht „Einheit des Leibes"

Es ist bedeutsam, dass wir nicht ermahnt werden, die Einheit des Leibes zu bewahren. Das würde bedeuten, dass wir mit jedem Glied des Leibes Christi zusammenzugehen hätten, unabhängig davon, in welchen Verbindungen es sich befindet oder wie seine Wege im praktischen Leben aussehen. Selbst nicht das schlimmste Böse in einem Mitbruder dürfte uns dann Veranlassung sein, uns von ihm zu trennen. Wir werden noch finden, dass dies nicht die Lehre der Schrift ist; denn das Bewahren der Einheit des Geistes schließt notwendigerweise die Gemeinschaft mit einer göttlichen Person ein. Würde jedoch die Versammlung Gottes noch in ihrem gottgemäßen und gesunden Zustand sein, so würde praktischerweise kein Unterschied zwischen den beiden Ausdrücken „Einheit des Leibes" und „Einheit des Geistes" bestehen.
Was jedoch das Bewahren der Einheit angeht: Die Einheit des Leibes können wir weder bewahren noch brechen; sie wird aufrechterhalten durch den Heiligen Geist selbst, der in der Versammlung wohnt und alle Glieder des Leibes Christi miteinander und mit dem Haupt im Himmel verbindet. Trotz des schmerzlichen Versagens der Menschen - diese Einheit bleibt, weil der Heilige Geist bleibt.

Ist der Christus zerteilt?

Wenn der Heilige Geist eine praktische Einheit unter den Gläubigen bewirken will, dann ist völlig klar, dass die heute bestehenden Trennungen innerhalb der Christenheit, dass die verschiedensten christlichen Gruppierungen und Sekten nicht nach den Gedanken Gottes sind. Sie stehen vielmehr Ihm und Seinem Willen vollständig entgegen. Nicht selten hört man den Gedanken, dass die in Epheser 4 erwähnte Einheit lediglich eine unsichtbare Einheit in Christus und durchaus mit mannigfachen getrennten Gruppen vereinbar sei. Nur müsse man, auch wenn die Gläubigen äußerlich getrennt sind, den Geist des Friedens bewahren. Doch diese Deutung ist in zweifacher Weise falsch. Zum einen wird dadurch der Friede zum Hauptgegenstand gemacht, als würden wir ermahnt, uns zu befleißigen, das Band des Friedens zu bewahren. Der Heilige Geist fordert uns nicht dazu auf, inmitten der Spaltungen den Frieden zu bewahren, sondern dazu, die Einheit in praktischer Hinsicht in Frieden aufrechtzuerhalten. Zum anderen können und brauchen wir die „unsichtbare", die absolute Einheit nicht zu bewahren. Das haben wir schon gesehen.
Dass Gott tatsächlich an eine Einheit denkt, die auch sichtbar dargestellt werden soll, mögen zwei weitere Stellen aus dem Neuen Testament verdeutlichen. Wenn der Herr Jesus als Gegenstand Seines Gebets in Johannes 17 von den Aposteln zu denen übergeht, die durch ihr Wort an Ihn glauben würden, dann ist es Seine erste Bitte für sie zum Vater, „dass sie alle eins seien, . . . auf dass die Welt glaube, dass du mich gesandt hast" (Vers 21). Niemals jedoch könnte eine unsichtbare Sache ein Zeugnis vor der Welt sein, durch das sie dahin gebracht würde, an Ihn zu glauben. Wenn sich die Einheit der Gläubigen nicht so darstellt, dass sie von der Welt wahrgenommen werden kann, wird das Zeugnis, von dem der Herr hier spricht, nicht abgelegt.

Im ersten Kapitel des ersten Korintherbriefes werden Spaltungen unter den Gläubigen auf sehr ernste und entschiedene Weise verurteilt:
„Ich ermahne euch aber, Brüder, durch den Namen unseres Herrn Jesus Christus, dass ihr alle dasselbe redet und nicht Spaltungen unter euch seien, sondern dass ihr in demselben Sinne und in derselben Meinung völlig zusammengefügt seiet. Denn es ist mir von euch kundgeworden, meine Brüder, durch die Hausgenossen der Chloe, dass Streitigkeiten unter euch sind. Ich sage aber dieses, dass ein jeder von euch sagt: Ich bin des Paulus, ich aber des Apollos, ich aber des Kephas, ich aber Christi. Ist der Christus zerteilt? Ist etwa Paulus für euch gekreuzigt, oder seid ihr auf Paulus Namen getauft worden?" (Verse 10-13).
Was finden wir hier? Genau das, was die heutige Christenheit charakterisiert: Spaltungen. Gewiss, die Gläubigen in Korinth kamen noch an einem Ort zusammen, brachen noch zusammen das Brot. Denn noch war kein äußerer Riss eingetreten. Auf diese Unterschiede werde ich im dritten Teil ausführlicher eingehen. Aber im Prinzip waren schon diese Gruppenbildungen vorhanden, die wir heute überall in der Christenheit sehen. Die Gläubigen scharten sich bereits um verschiedene menschliche Lehrer, sie bildeten gewisse „Schulen", von denen die eine diese, die andere jene Lehrmeinung bevorzugte. Die schlimmste Gruppe bildeten gewiss jene, die Christus selbst zu ihrem Oberhaupt erwählt hatten: Sie stellten Ihn und Seine Lehre damit in Gegensatz zu den Aposteln und ihrer Lehre und machten Ihn damit zu dem Haupt einer christlichen Partei.
Wie begegnet der Apostel dieser Entwicklung unter den Gläubigen? Sagt er: „Ich ermahne euch nun, da ihr alle Verschiedenes redet, es in einer freundlichen Art und Weise zu tun"? Nein, er sagt: „Ich ermahne euch aber, Brüder, dass ihr alle dasselbe redet." Sagt er: „Seht zu, dass die verschiedenen Gruppen in Frieden miteinander vorangehen"? Nein, er sagt: „Ich ermahne euch aber, Brüder, . . . dass nicht Spaltungen unter euch seien." Und dann fügt er fast unwillig hinzu: „Ist der Christus zerteilt?" Diese Worte können nur eine Bedeutung haben: Die Trennung der Christen in verschiedene Lehrschulen oder Parteiun-gen ist, selbst in ihrer mildesten Form, die sie damals angenommen hatte, völlig unvereinbar mit der Einheit der Versammlung als dem Leib Christi. Sich um Paulus zu versammeln würde nichts anderes in sich schließen, als dass statt Christus Paulus für sie gekreuzigt worden wäre. Absurder, unerträglicher Gedanke! Genauso unerträglich sind Spaltungen unter Kindern Gottes. Nein, diese Spaltungen waren und sind mit nichts zu rechtfertigen. Und wer kann, ohne sein Gewissen zu vergewaltigen, behaupten, dass der von Paulus getadelte Zustand in Korinth wohl damals falsch war, dass aber das, was wir heute um uns her sehen, richtig ist? Würde Paulus, inspiriert durch den Geist Gottes, heute etwas anderes sagen als damals? „Denn da Neid und Streit unter euch ist, seid ihr nicht fleischlich und wandelt nach Menschenweise? Denn wenn einer sagt: Ich bin des Paulus; der andere aber: Ich des Apollos; seid ihr nicht menschlich?" (Kap. 3, 3.4).

Eine siebenfache Einheit

Dass Gott an eine sichtbare Darstellung der Einheit denkt und dass Er deswegen Spaltungen und Partei-ungen unter Seinem Volk verurteilt, kann nicht geleugnet werden. Wenn wir nun zu der uns beschäftigenden Ermahnung, die Einheit des Geistes in dem Bande des Friedens zu bewahren, zurückkehren, stellen wir fest, dass uns als Grund für unser Bemühen sieben Einheiten genannt werden, in die wir durch Gottes Gnade gebracht worden sind. Diese sieben Einheiten gliedern sich in drei Bereiche, die zu erfassen für unseren Gegenstand wichtig ist (Eph 4, 4-6).
1) „Ein Leib und ein Geist" - dies ist der Bereich wirklicher, göttlicher Gemeinschaft. Es gibt nur einen Leib, der, wie wir gesehen haben, durch den Heiligen Geist gebildet wird. Jedes Kind Gottes, das in dem gegenwärtigen Augenblick auf der Erde lebt, gehört zu diesem Leib, dem Leib in seinem zeitlichen Aspekt. Der Heilige Geist ist es auch, der die „eine Hoffnung
eurer Berufung", wie sie im ersten Kapitel des Briefes entfaltet wird, in dem Herzen der Gläubigen aufrecht hält.
2) „Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe" - dies ist der Bereich (oder die Einheit) des öffentlichen Bekenntnisses, des Bekenntnisses zum Christentum. Während der erste Bereich durch wahre Gemeinschaft in der Kraft des Heiligen Geistes gekennzeichnet ist, umfasst dieser zweite Bereich das ganze christliche Bekenntnis. Es ist der Herrschaftsbereich Christi auf der Erde. Deswegen wird gesagt: „Ein Herr." Dass dieser Bereich auch alle jene miteinschließt, die sich auf irgendeine Weise, und sei es auch nur der äußeren Form nach, zum Beispiel durch ein christliches Glaubensbekenntnis, zu Christus als Herrn bekennen - dass er also auch tote Bekenner umfasst, ist wahr, aber nicht Gegenstand dieses Briefes. Der Ausdruck „ein Glaube" weist als Gegensatz zum Judentum oder Heidentum auf den einen christlichen Glauben hin, zu dem sich alle die bekennen, die dessen äußeres Zeichen, die „eine Taufe", nämlich die christliche Taufe mit Wasser, an sich tragen.
3) „Ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und in [uns] allen" - dies ist der Bereich universaler Einheit. Er trägt einen noch allgemeineren Charakter als der zweite und umfasst nicht nur Christen, sondern alle Geschöpfe des einen Gottes und Vaters. Gott ist der „Vater", das heißt der Ursprung „aller", denn Er erschuf sie alle. Er ist es, der „selbst allen Leben und Odem und alles gibt"; „denn wir sind auch sein Geschlecht" (Apg 17, 25.28). Hier haben wir also den Bereich der Schöpfung.
Doch warum wird uns diese siebenfache Einheit vorgestellt? Sie bildet offenbar den Grund für die Ermahnung, mit Fleiß die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens. „Da ist ein Leib"; werden dadurch nicht Spaltungen grundsätzlich verurteilt? Da ist „ein Geist"; warum dann so viele Ansichten über die Ordnung, die Lehre, die rechte Verhaltensweise in der Versammlung Gottes? Es gibt nur „eine Hoffnung eurer Berufung"; warum dann die widerstreitenden Wege und Absichten derer, die doch dem gleichen himmlischen Ziel zustreben? Da ist „ein Herr"; wie erschreckend dann zu sehen, dass sich Menschen durch eigene Regeln über die Autorität des Herrn hinwegsetzen! Da ist „ein Glaube"; wie ist er mit den verschiedensten Glaubensbekenntnissen vereinbar, die die Christenheit zerreißen? Es gibt nur „eine Taufe"; wie beschämend dann, wenn diejenigen, die bekannt haben, mit Christus begraben worden zu sein, so fleischlich sind, dass sie sich in Gruppen und Parteiungen aufspalten! Schließlich ist es „ein Gott und Vater aller", der als Ursprung von allem Gemachten alles in Sich vereint; sollten dann nicht die, die Ihn persönlich als ihren Vater kennen, die göttliche Ordnung und Einheit widerspiegeln und nicht ein derartiges Bild der Verwirrung und Zersplitterung bieten, wie wir es um uns her in der Christenheit sehen?

Welchen Weg sollen wir gehen?

Wenn Parteiungen oder Sekten eine direkte Leugnung der Gedanken Gottes über die Versammlung sind, welcher Weg bleibt uns dann? Möglichst freundlich über alle Abgrenzungen hinweg miteinander verkehren? Freundliche Gefühle gegenüber anderen Kindern Gottes zu haben ist natürlich immer recht, aber das allein kann der Weg Gottes nicht sein. Gott verurteilt nicht nur eine falsche Gesinnung zwischen den Sekten, sondern die Sekten selbst. Nun, dahin müssen auch wir kommen, wenn wir in Gemeinschaft mit Ihm sein wollen. Wir können und sollen die von Menschen geschaffenen Systeme gewiss nicht beseitigen. Die Tatsache, dass sie vorhanden sind, zeigt nur zu deutlich, dass wir nicht wachsam waren. Das muss uns zutiefst beschämen. Da die äußere Darstellung der Einheit durch unsere Untreue zerstört worden ist, sind wir unmöglich berufen, den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Nein, der Heilige Geist weist uns einen ganz anderen Weg: zu den Grundsätzen Gottes zurückkehren, auf welche die Versammlung zu Anfang gegründet wurde und auf denen sie heute noch ruht.
Wenn wir uns zurückbesinnen, auf welche Weise Spaltungen zu Anfang entstanden, bekommen wir den Schlüssel dafür in die Hand, wie wir zu den ursprünglichen Grundsätzen zurückgelangen können. Dabei schälen sich klar zwei Punkte, und eigentlich nur diese zwei, heraus.
Der erste Schritt ist, dass wir als Mittelpunkt unseres Zusammenkommens nur Christus anerkennen. Jeden anderen Sammlungspunkt müssen wir aufgeben. Wir haben gesehen, wie die Gläubigen in Korinth sich mehr und mehr um Menschen scharten und deren Namen als Zentrum annahmen, ja, wie sie sogar den Namen Christi als einen Parteinamen gebrauchten. Gerade durch diese Dinge entstanden die Spaltungen in ihrer Mitte. Dagegen sind wir gehalten, uns allein zum Namen des Herrn Jesus hin zu versammeln. Denen, die so versammelt sind, gewährt Er Seine persönliche Gegenwart (Mt 18, 20).
Der zweite Punkt ist die Anerkennung des Wortes Gottes als alleiniger Maßstab für die Regelung aller Fragen über den gemeinsamen und persönlichen Weg. Die Korinther gaben viel auf menschliche Weisheit, auf Philosophie und Redekunst. Gerade durch diesen Hang gerieten sie in den Sog der „Schulstreiter dieses Zeitlaufs" (1. Kor l, 20) und fanden es ganz normal, wenn auch sie sich zu verschiedenen „Schulen" zusammenschlössen. Aber der Apostel musste ihnen zeigen, dass Gott die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht hat. Was in 1. Korinther l so deutlich gemacht wird, ist dies: Durch die Weisheit der Welt kann man die Dinge Gottes nicht erkennen. Das hat die Welt auf traurige Weise selbst unter Beweis gestellt: Sie hat den Herrn Jesus verworfen. Er war die Weisheit Gottes in Person. Und als Er hier war, haben Ihn die „Fürsten dieses Zeitlaufs" nicht zu erkennen vermocht. Doch was setzt Gott der menschlichen Weisheit entgegen? Die „Torheit der Predigt", das „Wort vom Kreuz", allgemein gesprochen: Sein heiliges Wort. Die Meinung und das Urteil der Menschen werden beiseite gesetzt, und an ihre Stelle tritt das untrügliche Wort Gottes.
Das sind die beiden Dinge, durch die wir dem Bösen des Sektentums entrinnen können, auch heute noch. Nur der Name des Herrn Jesus Christus („Name" steht für die Offenbarung dessen, was die Person ist, die ihn trägt) kann der Mittelpunkt sein, um den wir uns versammeln; und nur das Wort Gottes darf der Führer sein, durch den wir uns in der Kraft des Heiligen Geistes leiten lassen. Nicht umsonst hebt der Herr Jesus gerade diese beiden Dinge bei den Gläubigen in Philadelphia lobend hervor, wenn Er von diesem Überrest sagt: „Du hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet" (Off 3, 8).
„Sein Wort bewahren" bedeutet nicht, nur bestimmte Teile davon zu bewahren, sondern den ganzen offenbarten Willen Gottes festzuhalten. Alle Irrtümer der Christenheit haben damit begonnen, dass man zum Wort Gottes etwas hinzufügte oder etwas davon wegnahm. Ich glaube, dass in den Worten „Ich bin des Paulus, ich aber des Apollos, ich aber des Kephas" diese Gefahr angedeutet wird. Gott hatte jedem dieser Diener eine bestimmte Linie der Wahrheit anvertraut, wenn wir so sagen dürfen. Und anstatt die Wahrheit von allen anzunehmen, beschäftigte man sich nur mit dem Teil der Wahrheit, der durch den einen Diener bedient wurde. Anstatt zu erfassen, dass den Gläubigen alles geschenkt war, „es sei Paulus oder Apollos oder Kephas" (1. Kor 3, 22.23), wollten sie in ihrer Engigkeit und Torheit nur den einen oder den anderen annehmen. Dadurch aber verwarfen sie nicht nur das, was Gott den anderen anvertraut hatte, sondern brachten sich auch noch in Gegensatz zu ihnen. Hier haben wir die Wurzel für fast jeden lehrmäßigen Irrtum. Wenn man eine Wahrheit des Wortes Gottes auf Kosten anderer Wahrheiten bevorzugt und überbetont, wird selbst das an sich Richtige falsch. Die Lehre der Heiligen Schrift ist überaus mannigfaltig, und sie hat viele Seiten. Natürlich sind alle Linien der Belehrung in vollkommener Harmonie miteinander. Doch nur wenn wir bereit sind, uns dem ganzen Wort Gottes zu unterwerfen, wird uns Gott vor dem Abgleiten in Parteiungen oder Sekten bewahren können.

Eine weitere Sekte?

Die Ermahnung, „die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens", ist auch heute noch anwendbar, ja, für uns alle bindend. Keineswegs dürfen wir dem Gedanken Raum geben, dass es in unseren Tagen der Zersplitterung keine Möglichkeit mehr gebe, einen nicht sektiererischen Standpunkt einzunehmen. Das anzunehmen würde bedeuten, dass uns Gott entweder einen Weg gehen lässt, den Er selbst als falsch verurteilt oder dass Er uns zu einem Weg ermahnt, von dem Er von vornherein wusste, dass man ihn einmal nicht mehr würde gehen können. Kaum etwas könnte Ihn mehr verunehren als solche Vorstellungen. Nein, Geliebte, der Weg des Gehorsams Seinem Wort gegenüber ist immer gangbar. Diesen Weg habe ich vorzustellen versucht. Wenn wir keinen anderen Sammlungs- oder Mittelpunkt anerkennen als den Namen Christi und wenn wir uns dem ganzen Wort Gottes unterwerfen, dann bringt uns das zwar nicht zu dem Anfangszustand der Kirche zurück, als sie in Lehre und Praxis noch eins war, aber es führt uns auf jene göttlichen Prinzipien zurück, auf welche die Kirche anfangs gegründet wurde. Auf diese Weise können wir auch heute noch die Einheit des Geistes bewahren in dem Bande des Friedens. Dass darin auch die Absonderung von alledem eingeschlossen ist, was den Gedanken Gottes entgegensteht, wurde bereits berührt. „Darum gehet aus ihrer Mitte aus und sondert euch ab, spricht der Herr, und rühret Unreines nicht an, und ich werde euch aufnehmen" (2. Kor 6, 17).
Solchen, die diesen Weg zu gehen wünschen, wird oft der Vorwurf gemacht, sie bildeten durch ihre Trennung von anderen Mitgläubigen nur eine weitere Sekte. Doch dieser Vorwurf trifft nicht zu. Sie trennen sich nämlich nicht von anderen Gliedern des Leibes Christi, sondern sie finden sie bereits getrennt vor, und sie sagen: „Diese Trennungen sind falsch. Wir können sie nicht dadurch sanktionieren, dass wir mit einer von diesen Gruppen zusammengehen." Sie lehnen also nicht andere Mitgläubige ab, sondern die Systeme, durch die sie praktisch getrennt werden. Sie möchten nur auf dem Grundsatz der Einheit der Gläubigen zusammenkommen - einem göttlichen Grundsatz, durch den alle Parteiungen oder Sekten als schriftwidrig und als Leugnung der Einheit des Leibes Christi verurteilt werden. Andere Gläubige mögen in den verschiedenen Sekten gefangen bleiben. Aber diese Trennungen werden nicht durch die hervorgerufen, die solche sektiererischen Gruppierungen ablehnen, sondern durch die, die in ihnen verharren.
Wenn nur zwei oder drei auf schriftgemäßem Boden zusammenkommen, dann kommen sie auf dem Grundsatz der Versammlung Gottes zusammen, und nicht auf dem Boden einer Sekte. Dieser Grundsatz ist weit genug, jedes Glied des Leibes Christi aufzunehmen, und er ist schmal genug, das fernzuhalten, was den Herrn verunehrt.
Sie sind nicht die Versammlung. Sie werden nie vorgeben, es zu sein. Sie werden nicht einmal den Anspruch erheben, der „Überrest" zu sein. Aber sie werden in bezug auf ihre Anbetung und ihre Zusammenkünfte zur Auferbauung und zum Gebet durch die Grundsätze geleitet, die Gott zur Ordnung aller Einzelheiten Seiner Versammlung gegeben hat, als die Dinge noch gut standen. Denn die Grundsätze Gottes werden durch keinen noch so ernsten Verfall beiseite gesetzt. Der Überrest weiß das und handelt danach. Als Ergebnis besitzt der Überrest alle Vorrechte der Versammlung Gottes, ja die persönliche Gegenwart des Herrn Jesus selbst. Mit Ihm in der Mitte sind sie gewürdigt, Seine Versammlung auf der Erde darzustellen.
Möge der Herr uns helfen, diesen Weg zu gehen - in einer Gesinnung, die durch Frieden geprägt ist! Welch ein Glück ist es, möchte ich diesen Teil abschließend bemerken, dass uns Gott diesen Weg geschenkt hat! Darauf haben wir Seine Gegenwart und Seine Billigung, wie dunkel die Tage selbst auch sein und uns auf die Probe stellen mögen.

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