Die Grippe (aus : die Tenne, 1929)

Lesezeit: 6 Min.

Was ist eigentlich „Grippe"? Was ist das Wesen, welches die Geschichte dieser Krankheit? Wodurch wird sie hervorgerufen? Derlei Fragen sind durch die in letzter Zeit an verschiedenen Stellen aufgetretenen Epidemien wieder lebendig geworden.

Spanische Krankheit

Noch vor wenig mehr als 10 Jahren sprach, wenigstens in nichtärztlichen Kreisen, kein Mensch von „Grippe". Als im Juni und Juli 1918, vielen von uns noch gut erinnerlich, diese heimtückische Krankheit, nach ihrem damaligen Entstehungsherd auch „Spanische Krankheit" genannt, ihren Triumphzug nicht nur durch die meisten europäischen Länder, sondern auch bis nach Amerika hielt, standen auch fast alle Ärzte einer unbekannten Krankheit gegenüber, wenigstens soweit persönliche Erfahrung in Frage kam. Und doch ist es eine uralte Krankheit. Aber eine Krankheit, die eine Eigentümlichkeit hat: Sie liebt nämlich, die Menschen zu überraschen. Wenn sie aber einmal die Menschheit überfallen hat, lässt sie wieder erst Generationen kommen und gehen, um dann plötzlich wieder ein Geschlecht heimzusuchen, in dessen Erfahrung und Erinnerung sie noch nicht ihre traurige Rolle gespielt hat.

Mit anderen Worten, die Grippe ist eine Seuche, die etwa alle 20-50 Jahre auftritt. Dann aber überfällt sie nicht nur eine Gegend, ja nicht nur ein ganzes Volk, sondern, wie wir es 1918 gesehen haben, sozusagen die ganze Erde. Man nennt ein derartiges Auftreten einer Krankheit in der Seuchenlehre „Pandemie", im Gegensatz zur „Epidemie", die in einer bestimmten Gegend ausbricht, rasch weiter um sich greift, aber meistens keine größere örtliche Verbreitung findet. Drittens unterscheidet man noch die „Endemie" („Ortsseuche", „Landeskrankheit"), die auf eine bestimmte Stadt oder Gegend beschränkt bleibt. ...

Deren Ausbreitung erfolgt dabei stets nur der Geschwindigkeit der jeweils gebräuchlichen Verkehrsmittel. Vor 100 Jahren noch in der Postkutsche, heute mit D-Zug-Geschwindigkeit. Auch in früheren Jahrhunderten ist schon ein Übergreifen der Krankheit von Europa nach Amerika beobachtet worden. Damals brauchte „Frau Grippe" für diese Reise mehrere Wochen, heute dagegen benutzt sie als „blinder Passagier" einen Schnelldampfer und kann in einigen Tagen schon jenseits des großen Wassers sein, bald vielleicht per Luftschiff dauert die unheilvolle Reise nur noch Stunden. Wir verstehen das, wenn wir Näheres über den Übertragungsweg von Mensch zu Mensch hören werden.

Pandemie

Bei der „Pandemie" pflegt die Krankheitswelle an einem bestimmten Ort nie später als nach 6 Wochen wieder abzuflauen. Doch verfrüht wäre es, wie das letzte Jahrzehnt zeigt, nun etwa die Krankheit für endgültig überwunden zu halten. Schon im Herbst 1918 kamen die ersten Rückfälle, nachdem erst in den Sommermonaten die Hauptwelle überstanden war. In zahlreichen Epidemien oder auch nur Endemien ist an vielen Stellen im Laufe der letzten 10 Jahre die Seuche immer wieder aufgeflackert. So sind auch die augenblicklichen Endemien zu erklären, die allerdings an Heftigkeit die der vorigen Jahre übersteigen.

Die ersten Berichte von einer Grippe-Epidemie finden sich bereits im Jahr 412 v. Chr. So lückenhaft sie auch sind, lassen sie doch keinen Zweifel, dass es sich schon damals um dieselbe Krankheit gehandelt hat. Wir hören, dass sie einsetzte mit einer Erkrankung der oberen Luftwege, mit Schnupfen und Halsentzündung, häufig auch Lungenentzündung. Auch die schnelle Verbreitung über den ganzen Erdkreis machte von jeher diese Krankheit mehr als irgendeine andere gefürchtet. Die ersten genauen Mitteilungen über eine Grippe-Pandemie haben wir aus dem Jahre 1510. Im letzten Jahrhundert ist die Grippe zweimal über die europäischen Länder hereingebrochen, und zwar beide Male aus Asien kommend(1833 und 1889/90) ...

Influenza

Ein Name neben „Grippe" hat sich aber bis zum heutigen Tage erhalten: Influenza. Bis 1918 war „Influenza" viel bekannter als „Grippe", und zwar weil die Diagnose „Influenza" fälschlicherweise oft angewandt wurde bei ganz gewöhnlichen Erkältungskrankheiten, die gar nichts mit der rechtmäßig den Namen „Influenza" oder „Grippe" tragenden epidemisch auftretenden Volksseuche zu tun haben. ...

Wie aus den, lateinischen Ausspruch, dem der Name „Influenza" entnommen ist, ersichtlich, hat man sich schon lange den Kopf zerbrochen über die Ursache der unheimlichen Seuche. Bei jeder Epidemie haben sich die Forscher bemüht, dieses Rätsel zu ergründen, in der Hoffnung, dann auch ein Vorbeugungs- oder Heilmittel dagegen zu finden. Zur Zeit der Pandemie von 1833 schrieb man die Entstehung einem Miasma [Verunreinigung] zu, d. h. einem eigentümlichen Krankheitsstoff in der Luft. 56 Jahre später, beim Ausbruch der vorletzten Influenza-Pandemie 1889, war man noch immer dieser Auffassung, obwohl schon Bakterien als Erreger der Infektionskrankheiten entdeckt worden waren.

Aber im Jahre 1892 entdeckte der Breslauer Bakteriologe Pfeiffer den sogenannten Influenza-Bazillus, den er als den lange gesuchten Erreger dieser Krankheit annahm. Doch muss hier gleich bemerkt werden, dass diese Annahme bis zum heutigen Tag nur auf Wahrscheinlichkeit gegründet ist. „Beschämt" muss auch heute noch die Wissenschaft gestehen, dass die Entstehung der Grippe ebenso wie die des Scharlachs und anderer Infektionskrankheiten trotz eifrigster Bemühungen nicht völlig geklärt ist. ... Gerade die außergewöhnlich zahlreichen Erkrankungen, aber auch die Ähnlichkeit der Krankheitserscheinungen mit denen der zweifellosen Grippe-Pandemie des Jahres 1918 begründen dies.

Zahlenrechnen

Bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse der Stadt Berlin wurden am 1.12.1928 rund 1000 Neuerkrankungen gemeldet, mit 110 Fällen von Grippe (Influenza). Diese Zahlen veränderten sich bis zum 15.1.1929, so dass an diesem Tag über 2500 Neuerkrankungen vorlagen, dabei nun aber 1600 Fälle von Grippe. Diese Krankenkasse erfasst aber nur etwa 12% der gesamten Berliner Bevölkerung.

Zur Beruhigung ... Erstens die bei manchen Infektionskrankheiten beobachtete Tatsache, dass der Körper nach einmaligem Überstehen solcher Krankheit Abwehrstoffe gebildet hat, die ihn immun, d. h. unempfänglich machen für eine Neuansteckung ... Zweitens können die Krankheitserreger, die Bakterien, an Giftigkeit oder krankheitserregender Kraft abnehmen, aber auch zunehmen. Das erstere scheint bei den Grippeerregern, das letztere dagegen bei den Diphtheriebazillen eingetreten zu sein. Die Grippe tritt in gemilderter Form, die Diphtherie dagegen heftiger und unseren Heilmitteln unzugänglicher auf als früher. ...

Falsche Mittel

Aber alles schöne Wissen über die Grippe schützt uns nicht vor der Krankheit selbst ... Niemals sollte man sich mit der Anwendung sogenannter „Hausmittel" zufriedengeben. Insbesondere wird dabei die Wirkung des Alkohols vielfach überschätzt und mit seiner Anwendung viel Missbrauch getrieben. Man vergesse nicht, dass seine Anpreisung an Litfaßsäulen usw. von geschäftstüchtigen Kaufleuten ausgeht, nicht etwa von Förderern der Volksgesundheit.

Vorbeugung

Noch wichtiger ist es aber, über die Vorbeugungsmaßnahmen zu sprechen. Wenn man auch nicht viel über den Influenza-Bazillus weiß, so hat man doch mit ziemlicher Sicherheit dessen Übertragungsweise festgestellt. Die niesenden und hustenden Menschen sind die Ausbreiter der Krankheit. Die neuesten Untersuchungen haben ergeben, dass bei der Grippe-Übertragung die „Tröpfchen-Infektion" die Hauptrolle spielt.

Wie groß der Streukegel der feinen unsichtbaren Tröpfchen bei starken Hustenstößen oder beim Niesen ist, davon geben die Abbildungen in hygienischen Museen ein anschauliches Bild. Und gerade diese Tröpfchen sind es, die ihre nur mit stärksten Mikroskopen sichtbaren Fahrgäste, die Grippe-Erreger, der Umgebung zutragen und von dieser eingeatmet werden.

Es sollte ja schon das natürliche Anstandsgefühl jeden dazu bringen, dass er durch das vorgehaltene Taschentuch seine Mitmenschen vor derartiger Belästigung oder auch Gefährdung schützt ...

Zusammenfassung

Zusammenfassend kann man also sagen: Der Schutz gegen Ansteckung besteht darin, dass man solche Gelegenheiten meidet, wo man in Gefahr ist, die Krankheitserreger einzuatmen, krass ausgedrückt also: alle Menschenansammlungen.

Und noch eins: Man hat in Bezug auf die Anfälligkeit eine starke Bevorzugung des weiblichen Geschlechts beobachtet und man wird wohl nicht fehlgehen, wenn man die Ursache dafür in der wachsenden Unzweckmäßigkeit der weiblichen Kleidung, insbesondere dem ungenügenden Kälteschutz der unteren Teile des Körpers vermutet.

Geistliche Überlegungen

Eins darf man allerdings auch nicht vergessen: Die Angst vor der Krankheit ist ihr gerade oft ein guter Wegbereiter. Das ist gleichfalls eine wissenschaftlich begründete Tatsache. Für uns Christen ist es sicher wichtig, gerade in Zeiten solcher besonderen Gefahr das Gottvertrauen zu bewahren oder es uns schenken zu lassen.

Unser Vater im Himmel hat nicht nur die Haare unseres Hauptes gezählt, sondern Er wacht auch über die winzigsten Krankheitskeime. Er kann jeden Schaden von uns fernhalten.

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