Die Versammlung (Gemeinde) an einem Ort (3)

Lesezeit: 14 Min.

Lieber Bruder,

in diesem Brief möchte ich gerne auf Grundlage der Schrift so klar wie möglich die folgende Frage beantworten: Müssen sich die Gläubigen einer Stadt alle in demselben Raum versammeln, um dadurch die Einheit zu bewahren, die dem Namen nach überall in unserer Mitte anerkannt wird und die in Tat und Wahrheit im geschriebenen Wort bestätigt bzw. vorausgesetzt wird.

„Epi to auto"

Im Neuen Testament gibt es einen Ausdruck, der mehrfach verwendet wird (epi to auto). Manche glauben, dass dieser Begriff voraussetzt und verlangt, dass sich die Heiligen als eine Schar in ein- und demselben Raum versammeln. Ist nun der einzig schriftgemäße Weg, die Einheit in einer Stadt auszudrücken, dass sich die Heiligen in nur einem Raum versammeln?

Wir wollen dem griechischen Ausdruck epi to auto in der Apostelgeschichte und in den Briefen nachgehen. So können wir erkennen, ob das Benutzen dieses Ausdrucks das Versammeln an nur einem Ort für ein gemeinschaftliches Handeln unabdingbar macht.

Die Bedeutung von „epi to auto"

Was den Ausdruck selbst betrifft, gibt es keine solch eingeschränkte Bedeutung. Denn die ursprüngliche und wörtliche Bedeutung ist „für dieselbe Sache". Im Ausdruck ist keine Übereinstimmung des Ortes enthalten, sondern vielmehr der Absicht. Natürlich kann dieselbe Absicht auch an demselben Ort oder zu derselben Zeit ausgeführt wird. Das kann beispielsweise im Zusammenhang der konkreten Anwendung des Ausdrucks deutlich werden. Daher ist „miteinander" oder „beisammen" zurecht eine abgeleitete Bedeutung, die tatsächlich an den meisten Stellen im Neuen Testament genau den Sinn trifft.

Nur die Umstände des jeweiligen Vorkommens machen deutlich, ob es im konkreten Fall auch eine Übereinstimmung in Raum oder Zeit gab. So versammelten sich die Pharisäer wahrscheinlich an einem gemeinsamen Ort „miteinander" (gr. epi to auto), um den Herrn zu versuchen (Mt 22,34). Es ist wohl auch kaum anders möglich, dass zwei Frauen „zusammen" mahlen (Lk 17,35).

Aber wir werden sehen, dass das nicht immer der Fall sein muss. Der Ausdruck selbst beschränkt sich nicht auf einen gemeinsamen Ort im physischen Sinn. Die Worte epi to auto an sich entscheiden das nicht, sondern die Umstände oder der Kontext. Der Ausdruck selbst schränkt uns daher nicht auf einen „Ort" im physisch-örtlichen Sinn ein. Im Allgemeinen hat die moralische Bedeutung den Vorrang -eigentlich sogar immer, außer bei rein äußerlichen Begegnungen.

Apostelgeschichte

Das erste Vorkommen ist Apostelgeschichte 1,15, wo uns in einem Klammersatz mitgeteilt wird, dass eine Menge von etwa 120 Personen „beisammen" war. Hier gibt es nichts, was uns von der Annahme abhält, dass die 120 alle in einem Raum versammelt waren. Gerade vorher war ja gesagt worden, dass Petrus in der Mitte der Brüder aufstand. Und unmittelbar danach haben wir seine Ansprache. Die natürliche Schlussfolgerung ist, dass sie alle beisammen waren, um zuzuhören. Aber die wahre Bedeutung des Ausdruck epi to auto ist hier eine Art Musterung von (wörtlich) Namen (siehe Fußnote in der Elberfelder Übersetzung, CSV) „beieinander", nicht dagegen, dass sie „versammelt" waren.

Beim zweiten Vorkommen (Apg 2,1), sehe ich keinen Grund zu bezweifeln, dass die Jünger an demselben Ort „beisammen" waren. Aber hier haben wir zudem das Wort „an einem Ort" (gr. homu), was richtigerweise auf den Ort bezogen wird („an einem Ort"), obwohl es auch die Bedeutung von „beisammen" (oder zusammen) annimmt, wenn nämlich die Vorstellung eines Ortes verschwunden ist (vgl. Joh 4,36). Die Brüder erwarteten in dieser Zeit nach der Himmelfahrt Jesu so die Verheißung des Vaters, wie es der Herr ihnen auferlegt hatte. Alle Umstände deuten darauf hin, dass sie an einem Ort versammelt waren, als sie durch die wunderbaren Gnade Gottes in dem einen Geist getauft wurden.

Doch der Ausdruck taucht nochmals in Vers 44 auf: „Alle aber, die glaubten, waren beisammen und hatten alles gemeinsam." Wir wissen um die plötzliche und gewaltige Ausbreitung der Wahrheit schon allein an diesem einen Tag. Sollen wir uns wirklich vorstellen, dass sie alle in einem Raum versammelt waren? Der Geist Gottes beschreibt in diesem Vers ihr gewohnheitsmäßiges Leben, das in Einheit stattfand. Es geht, wie es scheint, nicht allein um die Zusammenkommen als Versammlung. Während wir in Vers 42 von der allgemeinen Tatsache sowie dem formalen Grundsatz lesen, auf dem die Gläubigen zusammenkamen, finden wir in Vers 46 einige besondere Einzelheiten, die dem täglichen Leben der ersten Christen einen hellen und seligen Charakter verleihen. [1]

Die erste christliche Zeit

Am Schluss von Vers 47 haben wir eine weitere und noch zwingendere Widerlegung, dass dieser Ausdruck ἐπὶ τὸ αὐτό sich nur auf das Versammeln unter einem Dach beziehen könne, worauf manche den Ausdruck beschränken wollen. Der Text im letzten Satz lautet: „Der Herr aber fügte täglich hinzu (gr. epi to auto), die gerettet werden sollten". Aus mangelndem Verständnis haben sich die erklärenden Worte „zur Versammlung" (zum Beispiel in der Schlachter-Übersetzung) eingeschlichen. Man hat dann epi to auto an den Beginn von Apostelgeschichte 3 versetzt.

Wie auch immer man diese Passage liest, ist klar, dass die Worte ἐπὶ τὸ αὐτό nicht „am selben Ort" meinen. Der Herr fügte die Seinen hinzu, „zusammen", ganz unabhängig von einer Sammlung an „einem Ort". Dass sie sich so weit wie möglich gemeinsam versammeln und sich der Gemeinschaft der Gläubigen erfreuten wollten, steht außer Frage. Aber das waren praktische Ergebnisse dessen, was der Herr damals in seiner Gnade tat. „Da ist ein Leib und ein Geist" (Eph 4,4).

Es ist vollkommen klar, dass das feierlichste Zeugnis und der lieblichste Ausdruck der Gemeinschaft der Gläubigen als eins, das Brechen des Brotes, nicht an einem riesigen Ort stattfand, an dem Tausende teilnehmen konnten, sondern „zu Hause" (gr. kat' oikon). Das Haus steht hier im Gegensatz zum Tempel (Apg 2,46). Sie nahmen das Mahl des Herrn im den Häusern von diesem und jenem der Gläubigen ein. Vergleiche dazu Apostelgeschichte 5,42, wo ein ähnlicher Gegensatz nochmals auftritt, auch wenn es hier mehr um das Lehren und Predigen und nicht um das Mahl des Herrn geht.

Private Häuser

Die Gläubigen besaßen bis zu diesem Zeitpunkt noch kein öffentliches Gebäude, das für einen solchen Zweck geeignet gewesen wäre. Daher nutzten sie einfach ihre privaten Häuser überall in der Stadt. Die Säulenhalle Salomos mochte sich wunderbar eignen, solange sie zur Verfügung stand, um zu der großen Menge von Juden zu predigen und vor ihnen Zeugnis abzulegen, da die Juden diesen Ort als eine Art religiösen Aufenthaltsraum nutzten oder hier spazieren gingen. Aber es ist haltlos und unsinnig anzunehmen, dass sich alle Heiligen dort für Zusammenkünfte als Versammlung treffen wollten oder konnten. Es ist daher vollkommen klar, dass der Zusammenhang dieser Verse die Idee widerlegt, „beisammen" (epi to auto) hätte notwendigerweise etwas damit zu tun, dass sie sich alle an einem „Ort" versammelten. Denn wenn das beabsichtigt gewesen wäre, dann doch vor allem zum Brotbrechen. Und gerade im Blick darauf lesen wir ausdrücklich, dass es nicht so war.

Tatsache ist, das der Ausdruck ἐπὶ τὸ αὐτό von klassischen und „normalen" griechischen Schreibern in adverbialer Weise genutzt wird, genauso wie wir es im Neuen Testament gesehen haben. Auch bei ihnen bedeutet diese Wendung: „zusammen" oder „beisammen". So drückt Thukydides damit eine Gemeinsamkeit in Gesinnung oder in Falschheit aus, ganz ohne örtlichen Bezug (1. 79, vi. 106). Allerdings finden wir diesen Ausdruck nicht oft bei ihm. Für andere Zwecke verwendet er mit großer Präzision eis to auto, en to auto, kata to auto, ek tou autou usw. Ebenso verwendet Polybius den Ausdruck für „zusammen", Dionysios von Halikarnassos, Claudius Ptolemäus und Plutarch benutzen ἐπὶ τὸ αὐτό ebenso an etlichen Stellen, von anderen heidnischen Schreibern ganz zu schweigen.

In der Septuaginta

Aber es ist klar, dass wir uns der Septuaginta sowie Philo und Josephus zuwenden müssen, um direkte und eindeutigere Nachweise der neutestamentlichen Benutzung dieses Ausdrucks zu finden. Bei ihnen wird der Ausdruck ἐπὶ τὸ αὐτό vielfach und normalerweise für „zusammen" usw. verwendet. Gelegentlich schließt das ein, dass man sich an demselben Ort und zur selben Zeit traf. Aber wie im Neuen Testament ist der Gebrauch weiter gefasst und lässt oftmals eine Differenz in Ort und Zeit zu, während eine gemeinschaftliche Handlung oder Absicht vorliegt.

Beispiele dafür sind: 2. Mo 26,9; 2. Mo 36,13; 5. Mo 22,10; 25,5.11; Jos 9,2; 11,5; Ri 6,33; 19,6; 2. Sam 2,13; 10,15; 12,3; 21,9; Esra 4,3; Neh 4,2; 6,2.7; Ps 2,2; 4,9; 19,10; 34,4; 37,38; 41,8; 48,5; 49,3.11; 55,15; 62,10; 71,10; 74,6.8; 83,6; 102,23; 122,1; 133,1; Pred 11,6; Jes 66,17; Jer 3,18; 6,12; 46,12; 50,4; Hos 2,2; Am 1,15; Am 3,3; Mi 2,12 [zitiert nach den deutschen Vers- und Kapiteleinteilungen der Psalmen].

Eine Kommentierung dieser Vorkommen in der Septuaginta erübrigt sich. Auch wenn diese Ergebnisse natürlich vor allem für den Leser der griechischen Bibel von Interesse sind, nütz diese Liste hoffentlich auch deutschen Lesern. Diese Stellen zeigen, dass der Ausdruck ἐπὶ τὸ αὐτό eine Übereinstimmung in der Absicht auch bei verschiedenen Gemeinschaften an unterschiedlichen Orten einschließt.

Mit diesen Hinweisen könnten wir die Beantwortung der Frage mit den klaren Hinweisen aus Gottes Wort eigentlich beenden. Aber es mag zweifelnden Gemütern helfen, wenn wir diesen Punkt noch etwas weiter erklären.

Apostelgeschichte 4

Apostelgeschichte 4,26 ist nämlich ein weiteres, sehr hilfreiches Beispiel: „Die Könige der Erde traten auf, und die Obersten versammelten sich miteinander (gr. epi to auto) gegen den Herrn und gegen seinen Christus." Wie dieses Psalmwort anzuwenden ist, zeigt uns der nächste Vers, göttlich inspiriert: „Denn in dieser Stadt versammelten sich in Wahrheit gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, sowohl Herodes als auch Pontius Pilatus mit den Nationen und den Völkern Israels, um alles zu tun, was deine Hand und dein Ratschluss zuvor bestimmt hat, dass es geschehen sollte."

Nun ist vollkommen sicher, dass dieses "epi to auto"-Versammeltsein von Herodes, Pilatus, den Nationen und Israel nicht beinhaltet oder den Schluss zulässt, dass sie alle „an einem Ort" versammelt waren. Die Schrift sagt, dass sie „miteinander" epi to auto versammelt waren. Aber die Schrift zeigt ebenso klar, wie jeder Leser der Evangelien weiß, dass sie sich an ganz unterschiedlichen Orten epi to auto versammelten. Die Hohenpriester und Schriftgelehrten führten Christus vor ihren eigenen Rat, zuerst zu Annas und dann zu Kajaphas. Ihre ganze Schar führte Ihn später zu Pilatus zum Prätorium. Dann sandte Pilatus Ihn zu Herodes. Schließlich ließ Ihn Pilatus bei sich vor dem Kreuz züchtigen.

Damit ist bewiesen, dass das Argument, das sich auf diesen Ausdruck gründet, man müsse an einem Ort versammelt sein, falsch ist. Damit ist auch die damit verbundene Folgerung hinfällig, da sie nicht nur realitätsfern ist, sondern auch der klaren Unterweisung der Schrift widerspricht.

1. Korinther 7 und 11

Auch 1. Korinther 7,5 widerlegt klar, dass „an einem Ort" die Bedeutung von epi to auto ist. Dort ist von der regelmäßigen Vereinigung des Ehelebens die Rede. Die Eheleute konnten nämlich in der Zeit, von der Paulus hier spricht, immer wieder „an einem Ort" gemeinsam sein, dennoch aber das hier gemeinte epi to auto nicht erfüllen. Wir erkennen: Die Einschränkung bzw. die Notwendigkeit, epi to auto auf einen gemeinsamen Ort zu beziehen, ist falsch.

Daher gibt es keinen triftigen Grund, mehr aus epi to auto in 1. Korinther 11,20 herauszulesen, als man übersetzen könnte: „Wenn ihr nun gemeinsam zusammenkommt". Das war auch wahr, wenn sich die Heiligen in Korinth in mehreren Häusern trafen. Wir halten dabei fest, dass dieses Wort an die ganze Versammlung in der Stadt gerichtet war und nicht nur an einem Teil an einem Ort.

1. Korinther 14

Eine weitere Stelle, die für die These, dass sich alle gemeinsam an einem Ort versammelt haben, immer wieder verwendet wird, ist 1. Korinther 14,23-25. Aber es ist erstaunlich, wie man übersehen kann, dass der Apostel hier nicht Tatsachen beschreibt, wie sie waren oder sein sollten, sondern nur einen solchen hypothetischen Fall anführt, bei dem „die ganze Versammlung zusammenkommt epi to auto ". Ja, hier behandelt der Apostel tatsächlich den Fall, was sein würde, wenn alle an einem gemeinsamen Ort wären. Wenn dabei alle in Sprachen redeten, würden sie sich dem Vorwurf aussetzen, von Sinnen zu sein. Wenn dagegen alle weissagten, würde selbst ein Ungläubiger oder Unkundiger, der hereinkommt, zu der Überzeugung gedrängt, dass Gott wirklich unter ihnen wäre.

Wir wissen jedoch durch 1. Korinther 12,29-30 ausdrücklich, dass gerade nicht alle Propheten sind und nicht alle in Sprachen reden. Daher weist diese Stelle, wenn man sie richtig versteht, eher darauf hin, dass sich „die ganze Versammlung" tatsächlich gerade nicht an einem gemeinsamen Ort versammelte. Hier spricht Paulus in hypothetischer Weise und benutzt diesen Punkt als Argument, um den ungeistlichen Zustand Korinther zurechtzuweisen. Sie zogen nämlich die beeindruckenden Effekte der Zeichengabe der in Wahrheit höher zu wertenden Ausübung göttlicher Kraft durch die Weissagung vor. Weissagung steht höher, denn sie bringt die Seele in die Gegenwart Gottes, die mit seiner Gnade und Wahrheit verbunden ist.

1. Korinther 5

Derselbe Grundsatz gilt für 1. Korinther 5, nur dass der Fall dort etwas schwächer gelagert ist. Wenn die Versammlung der Korinther in mehreren Häusern Versammlungen hatte, kam sie eben doch als Versammlung zusammen. Daher tat jeder, ob an diesem oder jenem Ort in Korinth versammelt, den Bösen „von euch selbst" hinaus. Die Versammlung in Jerusalem verwirklichte dieselbe Einheit wie die in Korinth. Gleichwohl ist aus der Schrift offenbar, dass man sich in Jerusalem in vielen Häusern versammelte, um Brot zu brechen. Dasselbe gilt für Korinth, ohne dass dies irgendeinen negativen Einfluss auf die Einheit gehabt hätte.

Die Einheit des Geistes ist eine heutige Realität, sowohl was den Grundsatz betrifft, als auch im Blick auf die Praxis. Diese Einheit ist keine bloße Hoffnung für den Himmel, wozu solche sie machen wollen, die unabhängige Grundsätze verfolgen. Aber die Einheit steht völlig über den „Zufällen" von Raum und Zeit. Nimmt wirklich jemand ernsthaft an, dass die Korinther für den notwendigen Ausschluss des Bösen ihre verschiedenen Versammlungsorte vorübergehend aufgaben und sich immer dann, wenn kirchliches Handeln wie Aufnahme oder Ausschluss vorlag, alle zusammen in einem Gebäude trafen? Die Schrift gibt keinerlei Hinweis, dass für Zuchthandlungen so etwas getan wurde. Aber sie zeigt grundsätzlich, dass das Brot in verschiedenen Häusern gebrochen wurde, die über eine Stadt (wie Jerusalem oder Korinth) verteilt waren.

Die Versammlung der Laodizer

Wir haben in Kolosser 4 bereits den klaren Beweis gesehen, dass es mehr als ein Zusammenkommen in Laodizea gab und dass zugleich die Einheit aller Heiligen in dieser Stadt als die „Versammlung der Laodizeer" gewahrt blieb. Die örtliche Verantwortlichkeit ist von höchstem praktischen Wert. Aber sie darf nicht auf eine Weise ausgeübt werden, dass sie auf Kosten der Leitwahrheit geht, nämlich der Einheit in einer Stadt.

Zweifellos wird der Ausschluss in 1. Korinther 5 als Verantwortung der „Versammlung in Korinth" auferlegt, nicht nur der Versammlung in jemandes Haus, die natürlich nur ein Teil davon war (oder gewesen sein könnte).

Zuchtausübung

Die örtlichen Brüder beschäftigen sich natürlicherweise mit den Einzelheiten bei Aufnahme und Ausschluss. Das tun sie nicht als solche, die eifersüchtig ganz allein handeln wollen, aber auch nicht als Gläubige, die von anderen durch diese Untersuchung verdächtig beobachtet werden. Das ist möglich, wenn Gnade wirksam ist.

Aber auf der ganzen Versammlung in der Stadt liegt nach der Schrift unmissverständlich die Pflicht, sich in dieser Sache als rein zu erweisen (2. Kor 7,11). Die Isolierung der Versammlung in einem Haus von der Versammlung an anderem Ort dieser Stadt kommt dem Apostel nicht in den Sinn. Und wir müssen bedenken, dass der Herr „ein großes Volk" in Korinth hatte (Apg 18,10).

Es ist die Frucht alter Gewohnheiten und traditioneller Abweichung von Gottes Wort, die durch den zunehmenden Eigenwillen unserer Tage gestärkt wird, die eine solche schriftgemäße Praxis verwirft. Man beansprucht, „die Stimme Gottes" hinter vorübergehenden Umständen zu erkennen, wie es der Klerikalismus für sein Parteiwerk tut.

Eine bloße Bekanntmachung nach vollzogenem Ausschluss entspricht beispielsweise keineswegs dem Wort Gottes. So ein Vorgehen ist allerdings ganz im Einklang mit den freikirchlichen Systemen. Die Schrift verlangt, dass die Versammlung in der Stadt jemanden hinaustut, nicht ein lokales Zusammenkommen unabhängig von den übrigen. Andere Gläubige zu benachrichtigen, die nicht von dieser ernsten Pflicht betroffen sind, ist ein nachrangiger Punkt und keine Forderung der Schrift.

Aber die Schrift fordert zwingend, dass die Versammlung in der Stadt, und nicht nur das örtliche Zusammenkommen den Namen des Herrn auf der Erde rein erhält. Natürlich werden „die Versammlungen" der Umgegend auf diese oder jene Weise von einer Aufnahme oder einem Ausschluss erfahren und entsprechend der Entscheidung handeln. Das wird überall so getan, es sei denn, dass die Einheit in jeder Hinsicht aufgegeben wird.

Aber die Einheit würde in einer Stadt aufgegeben, wenn die darin zum Namen Christi versammelten Gläubigen (ob sie in einem oder in zehn Räumen zusammenkommen) nicht als Ganzes teilhaben am Hinaustun des Bösen. Das unabhängige Handeln des Zusammenkommens, wo der Böse normalerweise teilgenommen hat, entspricht nicht der Aufforderung des Heiligen Geistes. Vielmehr wird sein Ausschluss wie in Korinth durch alle versammelten Heiligen verlangt. Die Tatsache, dass die Gläubigen an mehreren Orten in einer Stadt zusammenkommen, verändert das göttliche Prinzip nicht, sondern macht die Einheit umso eindrücklicher.

Aber hier muss ich unterbrechen. Herzliche Grüße in Christus

William Kelly

Apostelgeschichte 9

P. S.: Manche Leser des zweiten Briefs, der in der letzten Ausgabe der Monatszeitschrift Bible Treasury erschienen ist, meinten, ich hätte übersehen, dass es auch in Damaskus Jünger gab (Apg 9,19.25). Dem ist allerdings nicht so. Der Brief zeigt das Gegenteil. Denn der Ausdruck „Jünger" bedeutet nicht notwendigerweise „Versammlung", weder damals noch heute.

Selbst wenn man annimmt, dass die Jünger in Damaskus oder an anderen Orten en ekklesia (als Versammlung) versammelt waren und wandelten, würde das nur einige meiner Worte ändern, die mit der eigentlichen Argumentation nichts zu tun haben. Daher erschüttern sie auch nicht die große und wesentliche Tatsache, um die es geht: Bei dem Ausdruck en ekklesia geht es um einen ganz anderen Gedanken.

Der Punkt der Jünger schwächt den Unterschied zwischen der Versammlung in einer Stadt und den Versammlungen einer Gegend in keine Weise ab. Eine falsche Auffassung von Einheit dagegen wird diese Unterscheidung verwischen oder zerstören. So wenig, wie dieser deutliche und wichtige Unterschied aus der Schrift gelöscht werden kann, so eng ist er mit dem Wesen der Versammlung Gottes auf der Erde verbunden. Jeder Gläubige ist dafür verantwortlich, sich zumindest der Autorität des Herrn, die mit der Handlung der Versammlung verbunden ist, nicht zu widersetzen oder sie zu behindern. Das gilt auch, wenn jemand diese Wahrheit nicht recht versteht oder wertschätzt.

Ich bin ganz einverstanden damit, dem Ausdruck in Apg 9,31 keine weitere Bedeutung beizumessen als die, dass die Versammlung durch diese Gegenden hin gemeint ist, also die Versammlung in den genannten Grenzen. Aber der Unterschied bleibt bestehen, selbst wenn hier „Versammlung" in der Einzahl steht und es wirklich hieße - was nicht der Fall ist - dass die Versammlung da schon anderswo bestand.



[1] Nachdem ich diesen Brief geschrieben habe, hatte ich Gelegenheit, die nun folgenden Hinwiese des gottesfürchtigen und gelehrten Dr. John Lightfoot anzusehen: „Der griechische Ausdruck ἐπὶ τὸ αὐτό wird in der Septuaginta häufig und in verschiedener Hinsicht benutzt. Manchmal bedeutet er das Treffen von Personen an demselben Ort. So wird er auch für wilde Tiere benutzt. Manchmal sind die Betroffenen auch mit derselben Handlung beschäftigt, auch wenn sie sich dabei nicht in einer festen Gruppe oder alle an einem bestimmten Platz befinden. Manchmal handeln sie auch in demselben Zustand und manchmal arbeiten sie zusammen, wenn auch in verschiedenen Gruppierungen.
Man kann an Joabs und Abners Männer denken, die zwar voneinander entfernt lagerten, denn der Teich von Gibeon war zwischen ihnen (2. Sam 2,12.13). Dennoch heißt es im Text, dass sie aufeinander stießen (συναντᾳν ἐπὶ τὸ αὐτό). In diesem Sinn muss dieser Ausdruck in der Begebenheit in Apostelgeschichte 2 verstanden werden. Denn es übersteigt jedes Vorstellungsvermögen, dass alle diese Tausende von Gläubigen, die jetzt in Jerusalem weilten, an einem Ort zusammenkamen und sich nicht aufteilten. Denn was für ein Haus sollte sie alle beherbergen? Nein, sie kamen in verschiedenen Gruppen zusammen, entsprechend ihren Muttersprachen, Nationen oder anderen Übereinstimmungen. Und dieses Zusammenfügen trennte sie von denen, die nicht glaubten. Sie hatten nun dasselbe Bekenntnis und verwirklichten dieselben Tätigkeiten im Gottesdienst. Daher heißt es hier: ἐπὶ τὸ αὐτό, auch wenn sie in verschiedenen Gruppen und an verschiedenen Plätzen zusammenkamen."
Ich habe hier die Bibelstellen wegelassen, die der Autor aus der Septuaginta zitiert, wie sie in genauerer Weise in der Liste aus der Septuaginta hervorgehen, die ich an anderer Stelle in diesem Brief angegeben habe.

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