„Die religiös schmerzfreie Gesellschaft“

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Die Thesen in der FAZ

Daniel Deckers, katholischer Theologe und Journalist, schreibt in seinem Artikel, dass „die höchsten Feiertage wie Pessach, die Kar- und Ostertage der Christenheit" in einer Weise stattfänden, wie es sich die Verächter der Religion immer erträumt hatten. Tatsächlich, sie finden nicht statt, jedenfalls nicht so, wie sich viele Christen das vorstellen.

„Religion als kollektives, auf symbolische Kommunikation angelegtes und sich in gemeinsamen Körperpraktiken materialisierendes Sinnsystem ist aus der Öffentlichkeit nahezu vollkommen verschwunden", schreibt Deckers weiter. Was das für Folgen für die Kirchen haben wird, könne man aktuell genauso wenig voraussagen wie die Corona-Folgen für die Wirtschaft. Man müsste eigentlich sagen, wie die Folgen des Handelns der politisch Verantwortlichen für Wirtschaft und Gesellschaft sein werden ...

Zwei weitere Sätze in der Frankfurter Allgemeine Zeitung lassen aufhorchen: „Doch ein Zurück zu dem Status quo ante dürfte es kaum geben - vor allem nicht für die Kirchen hierzulande." So schmerzfrei viele Kirchenführer die staatlichen Eingriffe in das Grundrecht der Religionsfreiheit hingenommen hätten, so religiös schmerzfrei scheine inzwischen ein Großteil der Gesellschaft zu sein.

Dazu ein paar Überlegungen:

  1. Was ist für uns eigentlich „der höchste Feiertag"?
    Sind es Ostern und Weihnachten? Dieser Tage fragte mich ein Jungbekehrter, wo man eigentlich noch Christen finden könne, die nicht Ostern als Fest feiern? Schwer zu sagen ...
    Jedenfalls finden wir es nicht als „Fest" in Gottes Wort. Wir lesen dort, dass der Herr Jesus am Passahtag gestorben ist (Mt 27,15; Lk 22,15). Aber wir haben keinen Hinweis im Neuen Testament, dass wir das Passah oder Ostern oder den Karfreitag „feiern" sollen. Wohl finden wir, dass wir den Tod des Herrn verkündigen sollen und dass wir dies an jedem ersten Tag der Woche tun dürfen, ja sollen (vgl. 1. Kor 11,24.25; Apg 20,7). Aber dass wir einmal im Jahr ein besonderes Fest begehen sollen, sagt uns Gott nicht.

  2. Macht es uns selbst und unseren Familien womöglich etwas aus, wenn/dass wir „Ostern" (oder Weihnachten) nicht begehen können?

  3. Ist Religion für uns ein kollektives, auf symbolische Kommunikation angelegtes materialisierendes Sinnsystem?
    Mein Punkt ist jetzt nicht so sehr, dass wir von Glauben und nicht von Religion im Sinn einer Weltanschauung oder eines Systems der Beachtung bestimmter Vorschriften sprechen (sollten). Wikipedia sagt ja zur Religion: Religion (von lateinisch religio ‚gewissenhafte Berücksichtigung, Sorgfalt‘, zu lateinisch relegere ‚bedenken, achtgeben‘, ursprünglich gemeint ist „die gewissenhafte Sorgfalt in der Beachtung von Vorzeichen und Vorschriften") ist ein Sammelbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Weltanschauungen, deren Grundlage der jeweilige Glaube an bestimmte transzendente (überirdische, übernatürliche, übersinnliche) Kräfte ist, sowie häufig auch an heilige Objekte.
    Mein Punkt ist: Geht es uns um symbolische Kommunikation? Stehen Symbole im Mittelpunkt unseres Glaubens? Handelt es sich um ein materialisierendes Sinnsystem? Hoffentlich nicht.
    Ja, es gibt zwei Symbole: die Taufe und das Gedächtnismahl. Die Beschränkung des Neuen Testaments auf diese zwei sichtbaren Symbole aber zeigt, dass wahres Christentum nicht in erster Linie äußerlich ist, sondern der innere Glaube, das Glaubensvertrauen auf Gott, den Herrn Jesus und seine bewirkte Erlösung. Dass der Glaube das Ausleben der materiell unsichtbaren aber untrennbaren Verbindung aller Erlösten als Versammlung (Gemeinde) Gottes ist.
    Mit anderen Worten: Woran halten wir uns fest? An Symbolen und äußeren Festen, an äußerlichen Merkmalen, oder leben wir den persönlichen und gemeinschaftlichen Glauben in nicht zeremonieller Weise aus?

  4. Wenn es kein Zurück zum „Status quo ante" gibt, soll das bedeuten, die virtuellen Ersatzformate werden zum Zentrum für das Miteinander vieler Christen auch in der Zukunft werden? Wenn man aus gesundheitlichen oder sonstigen Gründen nicht zu den Zusammenkünften der Gläubigen kommen kann, bieten wir den Gläubigen virtuelle Ersatzformen an? Leider haben wir oft festgestellt, dass gesellschaftliche Entwicklungen und Veränderungen im christlichen Bereich früher oder später auch uns selbst erreichen ... Das kann man nur mit Sorge sehen.
    Es geht an dieser Stelle nicht darum, dass es in bestimmten Ausnahmefällen nicht auch einer besonderen Überlegung und Entscheidung bedarf. Das hat es wohl schon immer gegeben. Aber man kann sich schnell an Formate gewöhnen, ohne zu hinterfragen, was Gottes Wille ist.
    „Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte" (Mt 18,20). Es könnte sich rächen, dass wir immer betont haben, dass es sich um einen geistlichen Ort handelt, also einen Ort mit geistlichen Grundsätzen. Und das ist und bleibt auch wahr. Es gilt aber festzuhalten, dass man leibhaftig an diesem Ort auch anwesend sein muss, an diesem „gemeinsamen Ort", damit dieses Versprechen des Herrn Wirklichkeit werden kann (für mich). Das galt zu den Zeiten, als die ersten Christen zusammenkamen, in gleicher Weise, wie es heute wahr ist.
    Der Einwand, dass es damals keine virtuellen Formate gab, zieht nicht. Denn derjenige, der diesen Grundsatz formulierte, wusste auch um unsere heutige Zeit. Er ist nämlich allwissend. Wenn Er es anders gemeint hätte, hätte Er es uns gesagt.

  5. Die Kirchenführer haben die staatlichen Eingriffe in das Grundrecht der Religionsfreiheit schmerzfrei hingenommen, schreibt Deckers.
    Wir haben als Christen keinen Auftrag, politisch zu demonstrieren, oder abzuwehren oder öffentlich hinzunehmen. Die Kirche Gottes ist kein Gebäude und keine Organisation, sondern ein Organismus. Die Versammlung bedarf keiner Genehmigung vonseiten des Staates, um zu existieren oder zusammenkommen zu können. Sie hat diesen Auftrag vom Herrn selbst bekommen. Das reicht ihr aus.
    Die Frage ist, wie schmerzfrei oder womöglich auch achselzuckend Christen mit dem Eingriff des Staates umgegangen sind. „Fürchte nichts von dem, was du leiden wirst", rief der Herr seiner verfolgten Versammlung in Zeiten von Smyrna zu (Off 2,10). Und Er fügt hinzu: „Sei getreu bis zum Tod, und ich werde dir die Krone der Lebens geben." Für eine spätere Zeit, die für uns schon in ihrem eigentlichen Charakter Vergangenheit ist, sagt derselbe Herr: „Ich habe eine geöffnet Tür vor dir gegeben, die niemand zu schließen vermag; denn du hast eine kleine Kraft und du hast mein Wort bewahrt und meinen Namen nicht verleugnet" (Off 3,8).

  6. In einem anderen Kommentar las ich: „Dass der ‚alte Trott‘ [vor dem der Bundepräsident Steinmeier warnte] nicht etwa verschwunden, ... konnte indessen zu Beginn des Osterwochenendes besichtigt werden. Während Gottesdienste, in denen sich Gläubige mit gesundem Abstand begegnen, für nicht möglich gehalten werden, erfreuten sich die Baumärkte eines saisonüblichen Andrangs. Müsste es, wenn Steinmeier sich Hoffnungen auf die ideale Gesellschaft machen könnte, nicht genau andersherum sein?" Vielleicht zeigt dies, dass das, was manche womöglich für notwendige, richtige und gute Anweisungen der Regierung hielten und dessentwegen auch als Anweisung aufgefasst haben, der wir auch im Blick auf das Brotbrechen gehorsam sein sollten, nicht wirklich "gut" war. Scheinbar gut ist nicht gut. Gehorsam kommt vor Dienst, und gehorchen ist besser als Schlachtopfer. „Denn dazu habe ich auch geschrieben, um eure Bewährung zu erkennen, ob ihr in allem gehorsam seid" (2. Kor 2,9).

Was für eine „Gesellschaft" findet der Herr bei mir, bei meiner Familie, bei uns Gläubigen wohl vor? Er sucht Herzen, die Ihm zugewandt sind.

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