„Ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir.“

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Ja, dieses Alleinsein, mit jedem Schritt würde es zunehmen bis zu jenem schrecklichen Höhepunkt, als vom Kreuz her Sein Ausruf ertönte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Doch keine Antwort durchdrang das Dunkel; es konnte nicht sein, denn als das wahre Sündopfer trug der Herr das Gericht für unsere Sünden. „Hochheilig“ wurde es schon im Vorbild genannt – wie viel mehr war es das jetzt! In stiller Anbetung neigen wir uns vor Ihm.

Aber der Herr fügt noch etwas hinzu: „Und ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir.“ Da Johannes Ihn uns als den Sohn Gottes schildert, trägt der Kreuzestod Christi hier den Charakter eines Brandopfers. Nicht das Gericht Gottes für unsere Sünden steht im Vordergrund, sondern die Verherrlichung des Vaters durch den Sohn. Dasselbe Feuer, das das Sündopfer im Gericht unerbittlich „verbrannte“, ließ zugleich den „duftenden Wohlgeruch“ des Brandopfers zu Gott emporsteigen (vgl. Heb 13,11; Eph 5,2). Als gerechter Richter musste Gott Sein Angesicht vor Ihm verhüllen, und doch ruhte Sein Wohlgefallen auf dem Geschehen von Golgatha, wo der Sohn auch in dieser Sache „das Ihm Wohlgefällige“ tat (Joh 8,29). Aber war nun deshalb das Leiden etwa weniger schlimm?

Es gibt eine kleine Erzählung von einem jungen Afrikaner, der als Mutprobe eine ganze Nacht im Urwald allein auf Jagdposition verbringen musste, um in die Gemeinschaft der bewährten Männer aufgenommen zu werden. Umgeben vom Lärm der wilden Tiere, denen er nur mit seiner einfachen Waffe gegenüberstand, durchlitt er Todesängste; die Nacht schien nie zu Ende zu gehen. Doch endlich nahte der Morgen, die Tiere verzogen sich, und durch den Nebel konnte er etwas erkennen: Da, in der Ferne stand ein Mann! - „Vater, wo kommst du denn her“? - „Ich bin die ganze Nacht hier gewesen; ich wollte dich nicht allein lassen, aber du durftest das nicht wissen.“

Wir wollen vorsichtig sein mit solchen Vergleichen. Der Herr war ja nicht unwissend über die Zusammenhänge wie der junge Afrikaner (vgl. Joh 13,13.32). Aber dass das Herz eines Vaters für den Sohn schlägt wie nie zuvor und er es ihm dennoch nicht zeigen kann, ja zeigen darf – das ist der Punkt, in dem sich das Brandopfer und Sündopfer begegnen. „An dem Ort, wo das Brandopfer geschlachtet wird, soll [auch] das Sündopfer geschlachtet werden vor dem HERRN“ (3. Mo 6,18). Es ist derselbe Altar, das Kreuz von Golgatha; dort fand beides zugleich seine Erfüllung.

Noch eine Beobachtung hilft uns vielleicht, das Zusammentreffen dieser beiden Gesichtspunkte zu verstehen: Bei keinem der Opfer kam das Blut ins Feuer; es wurde immer an den Fuß des Altars gegossen bzw. auf die Erde. (Der einzige Sonderfall ist das Opfer der roten jungen Kuh in 4. Mose 19. Dort wurde das Blut notwendiger Bestandteil der Asche, auf deren reinigende Kraft die Belehrung abzielt.)

Feuer bedeutet immer Gericht. Und so wahr es ist, dass im Sündopfer Gott „den, der Sünde nicht kannte, für uns zur Sünde gemacht hat“ (2. Kor 5,21), blieb der Herr in Sich selbst, im Kern Seines Wesens, auch da unbefleckt. Sein Blut, Sein Leben, gab Er hin – aber Gericht gab es dafür nicht. Er war „das Lamm ohne Fehl und ohne Flecken“ nicht nur bis zum Kreuzes, sondern blieb es auch am Kreuz. So verbindet der Gedanken an die Vollkommenheit Seines Wesens auch hier das Sündopfer mit dem Brandopfer.

Vielleicht fühlen wir uns an dieses Gedanken erinnert, wenn wir nächstens wieder einmal in 1. Mose 22 lesen: „Und sie gingen beide miteinander.“

erschienen in: Ermunterung & Ermahnung, November 2008, bestellbar bei: CSV-Verlag

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