Der barmherzige Samariter

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Ein selbstgerechter Mensch

„Und siehe, ein gewisser Gesetzgelehrter stand auf, versuchte ihn und Spruch: Lehrer, was muss ich tun, um ewiges Leben zu erben?" (Lk 10,23).

Wenn Lukas einen Bericht über eine Begebenheit mit den Worten "Und siehe" einleitet, so stellt er in der Regel einen Bezug zu dem Vorhergehenden her. Nun hatte der Herr Jesus zuvor in dem Gebet zu Seinem Vater von den „Weisen und Verständigen" gesprochen und gesagt: „Ich preise dich, Vater, ... dass du dies vor Weisen und Verständigen verborgen und es Unmündigen offenbart hast. Ja, Vater, denn so war es wohlgefällig vor dir" (Vers 21). Es scheint nun die Absicht des Heiligen Geistes zu sein, mit dem Gesetzgelehrten jemand vorzustellen, der zu dieser Gruppe der „Weisen und Verständigen" gehörte, in Wahrheit aber töricht und unwissend war.

Dieser des Gesetzes kundige Mann schickte sich an, den Herrn Jesus zu versuchen. Die Frage des ewigen Lebens beschäftigte viele in Israel (vgl. Mt 19,16-22; Mk 10,17-22; Lk 18,18-23), und wahrscheinlich wollte er sehen, was Jesus dazu sagen würde und ob er Ihn in Widersprüche verwickeln könnte zu den Vorstellungen, die sie als Juden über das Gesetz hatten.

Seine Frage „Lehrer, was muss ich tun, um ewiges Leben zu erben?" offenbart ihn als einen selbstgerechten Menschen, der sich das ewige Leben verdienen will. Dass er dazu etwas tun muss, war für ihn selbstverständlich, nur war er sich nicht darüber im Klaren, was es ist. Dennoch scheint es sich um eine mehr theoretische Frage gehandelt zu haben, und wir müssen nicht annehmen, dass der Fragesteller auch nur im Geringsten daran dachte, das zu tun, was Jesus antworten würde. Im Gegenteil, er versuchte Ihn und erwartete eine Antwort, die er gegen Ihn benutzen könnte.

Das einzig Positive bei diesem Mann war, dass er - wenn vielleicht auch mit gemischten Beweggründen - um das ewige Leben besorgt war. Doch das Fragen nach dem ewigen Leben allein ist zu wenig, und die ganze innere Einstellung war falsch. Denn dieser Mann fragte nicht wie später der Kerkermeister in Philippi: „Was muss ich tun, um errettet zu werden?" (Apg 16,30). Wer so fragt, gibt zu, dass er verloren ist und dass nur die Gnade Gottes ihm helfen kann. Von dieser Überzeugung war der Gesetzgelehrte jedoch weit entfernt. Er wollte etwas tun, um sich dadurch ewiges Leben zu erwerben. Wer aber so denkt, stellt sich auf den Boden des Gesetzes und hält sich für kompetent und fähig, das zu tun, was Gott verlangt. Welch ein verhängnisvoller Irrtum ist das, und welch eine Torheit zugleich! Denn erstens konnte niemand je das Gesetz halten, sonst lebte er heute noch; und zweitens hat Gott das Gesetz nicht als den Weg des Heils gegeben, auf dem ein Sünder zu ewigem Leben gelangen kann (Gal 3,21). Gott gab das Gesetz zur Erprobung derer, die meinten, in der Lage zu sein, das von Gott Geforderte zu halten (2. Mo 24,3.7).

Dementsprechend fällt nun auch die Antwort des Herrn aus. Während der Kerkermeister die gute Botschaft hören durfte: „Glaube an den Herrn Jesus, und du wirst errettet werden, du und dein Haus", stellt der Herr dem Gesetzgelehrten zunächst zwei Gegenfragen.

„Er aber sprach zu ihm: Was steht in dem Gesetz geschrieben? Wie liest du?" (Lk 10,26).

Bewundernswert ist die Geduld des Herrn mit diesem selbstgerechten Menschen, aber auch die Weisheit, mit der Er auf dessen Frage eingeht. Er stellt sich auf den Boden Seines Gegenübers. Wir finden das auch bei anderer Gelegenheit. Aber dabei lässt Er den Gesetzgelehrten seine Frage selbst beantworten und lenkt ihn so, dass er dies aus dem Gesetz tut, auf das er sich stützt. Er hatte Ihn mit „Lehrer" angeredet, und dieser Lehrer fragt ihn nun etwas, von dem Er ausgeht, dass er, der Gesetzgelehrte, es kennt - was sich ja auch bestätigt. War das nicht geradezu entwaffnend? Blieb da noch Raum für böswillige Absichten?

Im Grundtext ist die Wendung >in dem Gesetz< durch die Stellung im Satz stark betont: „In dem Gesetz", fragt der Herr Jesus - „was steht da geschrieben?" Mit der zweiten Frage „Wie liest du?" will der Herr den Gelehrten nur veranlassen, die entsprechenden Worte zu zitieren. Auch hierbei setzt Er die entsprechende Kenntnis und Fähigkeit dafür voraus. Mussten bei dieser Vorgehensweise des Herrn nicht alle feindseligen Gefühle im Herzen dieses Mannes dahinschwinden?

„Er aber antwortete und sprach: ,Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Verstand, und deinen Nächsten wie dich selbst. Er sprach aber zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu dies, und du wirst leben" (Lk 10, 27.28).

Das ist, für sich genommen, eine treffliche Antwort des Gesetzgelehrten. Sie zeigt, dass er das Gesetz nicht umsonst studiert hat und dass er sehr wohl die beiden Gebote kennt, die das Herz dessen bilden, was Gott im Gesetz von dem Menschen fordert (vgl. 5. Mo 6,4-5; 3. Mo 19,18). An ihnen hängt das ganze Gesetz und die Propheten (Mt 22,40). Tatsächlich ist die Liebe die Summe des Gesetzes (Rom 13,10).

Und so sagt der Herr Jesus gleichsam: „Du hast völlig recht. Alles, was du nun zu tun hast, ist, dich entsprechend deiner Antwort zu verhalten; und so wirst du leben." Bemerkenswert ist die Verbform bei >Tu dies<. Sie bedeutet: „Tu dies beständig, ununterbrochen!" Ein einziges Versagen darin würde von Gott als ein Bruch des ganzen Gesetzes verstanden werden. Denn es steht geschrieben: „Verflucht ist jeder, der nicht bleibt in allem, was im Buch des Gesetzes geschrieben ist, um es zu tun" (Gal 3,10). „Denn wer irgend das ganze Gesetz hält, aber in einem strauchelt, ist aller Gebote schuldig geworden" (Jak 2,10). Ob diese unerbittliche Konsequenz wohl von denen bedacht wird, die auch in unseren Tagen meinen, auf dem Boden des Gesetzes, das heißt des eigenen Tuns, vor Gott stehen und bestehen zu können?

Lieben bedeutet leben, und wirkliches Leben ist lieben. Das macht die Antwort des Herrn an den Gesetzgelehrten ebenfalls deutlich. Die sittliche Verpflichtung des Geschöpfes sowohl seinem Schöpfer als auch seinem Mitmenschen gegenüber ist Liebe. Auf diesem ewigen Grundsatz besteht hier der Herr Jesus - ein Grundsatz, der zu jeder Zeit und Epoche der Menschheitsgeschichte Gültigkeit besitzt. Der unveränderliche Charakter des ewigen Lebens ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm (1. Joh 4,16).

Kann Gott sich je mit den hohlen Formen äußerer Gesetzestreue zufrieden geben? Der Gesetzgelehrte mochte sich schmeicheln, in der Beobachtung des zeremoniellen Gesetzes gewissenhaft zu sein, wie es auch Saulus von Tarsus sich zugute hielt (Phil 3,6). Aber der Herr sagt ihm: „Du willst dir ewiges Leben erwerben? Nun, dann fülle die äußeren, leeren Formen deiner ,Frömmigkeit mit Liebe aus, denn das allein ist wirkliches Leben."

In gewissem Sinn gilt das auch uns Gläubigen heute, wie schon das angeführte Zitat aus Römer 13 deutlich macht. Dort werden wir im achten Vers ermahnt: „Seid niemand irgendetwas schuldig, als nur einander zu lieben; denn wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt." Auch Jakobus bezieht sich in seinem Brief auf dieses „königliche Gesetz": „Wenn ihr wirklich das königliche Gesetz erfüllt nach der Schrift: ,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, so tut ihr recht" (Kap. 2, 8 ff}. Nun bleibt bestehen, dass, wenn wir an den Sohn Gottes glauben, wir ewiges Leben haben (Joh 3,16-18.36; 1. Joh 5, 1.13) - Gott sei Dank! Doch dieses Leben äußert sich in Liebe zu Gott und in Liebe zum Nächsten.

Wir sind nicht selten geneigt, diese Verbindung zu übersehen und uns ebenfalls mehr mit äußeren Formen der Gottseligkeit zu begnügen. Deswegen ist das nachfolgende Gleichnis in einem rein praktischen Sinn auch für uns von großer Bedeutung.

Der Herr Jesus hatte in einer Weise gesprochen, als wäre die Sache damit erledigt, die Frage endgültig geklärt. Gab es noch mehr zu sagen? Die Absicht des Gesetzgelehrten, Ihn zu versuchen, war fehlgeschlagen. Die Angelegenheit hatte sich unter der Hand des Herrn als eigentlich ganz einfach erwiesen: Mögen sich die, die Gerechtigkeit aus Werken zu erlangen suchen, an das halten, was das Gesetz sagt, und das tun, was sie als dessen wesentlichen Bestandteil selbst bezeugt haben! Einem redlichen Gemüt hätte diese Zurechtweisung völlig genügt. Vom Herrn überführt, hätte solch ein Mensch seine Unfähigkeit eingesehen und Zuflucht zu der Gnade Gottes genommen. Von dem Gesetzgelehrten heißt es jedoch:

»Da er aber sich selbst rechtfertigen wollte, sprach er zu Jesus: Und wer ist mein Nächster?" (Lk 10,29).

Damit war der eine Räuber am Kreuz diesem Gelehrten an Redlichkeit und Einsicht weit voraus, bekannte der doch vor seinem Mitgehängten: „Denn wir empfangen, was unsere Taten wert sind" (Kap. 23,41). Dieser Verbrecher rechtfertigte Gott, der Gesetzgelehrte dagegen suchte nur sich selbst zu rechtfertigen. Letzteres tun die Menschen immer dann, wenn sie sich den Gedanken Gottes, durch die sie sich beurteilt sehen, nicht beugen wollen.

Vielleicht hatte der Gesetzgelehrte bei seinem Ausweichmanöver auch noch den Hintergedanken, sich dafür zu rechtfertigen, dass er seine ursprüngliche Frage überhaupt gestellt hatte. Wenn Jesus die Angelegenheit auf einen so einfachen Nenner brachte, hätte er, der Gelehrte, die Antwort nicht selbst finden müssen? Um zu zeigen, dass sie so einfach eben doch nicht ist, reichte er die weitere Frage nach, wer denn sein Nächster sei. Aber welch ein Armutszeugnis stellte er sich selbst damit aus! Und war es zugleich nicht auch das Eingeständnis davon, dass er noch nie nach diesem Gebot gehandelt hatte? Er wusste ja nicht einmal, wer sein Nächster war! Jedenfalls gab er das vor. Wie konnte er ihn dann lieben?

Das war in der Tat ein armseliges Leben eines Gesetzgelehrten in Israel! Die einfache Antwort des Herrn hatte alles ans Licht gebracht: den Unglauben, die Blindheit, die Unwissenheit und Halbherzigkeit dieses Mannes. Er hatte nötig, durch ein einfaches Gleichnis darüber belehrt zu werden, wer „sein Nächster" war.

Das Gleichnis in seiner sittlichen Bedeutung

Die Juden damals dachten, durch ihre Lehrer so unterwiesen, dass als >Nächste< nur Blutsverwandte in Frage kamen. Menschen aus den heidnischen Völkern im Allgemeinen und die Samariter im Besonderen fanden keinen Platz in ihren Gedanken. Auf diese Weise versuchten sie, das Gebot zu umgehen und zu entschärfen. Aber der Herr zeigt in Seinem wunderbaren Gleichnis, dass Gott keine nationalen oder gesellschaftlichen Grenzen in der Frage der Nächstenliebe anerkennt.

»Jesus erwiderte und sprach: Ein gewisser Mensch ging von Jerusalem nach Jericho hinab und fiel unter Räuber, die ihn auch auszogen und ihm Schläge versetzten und weggingen und ihn halb tot liegen ließen. Von ungefähr aber ging ein gewisser Priester jenen Weg hinab:, und als er ihn sah, ging er an der entgegengesetzten Seite vorüber. Ebenso aber auch ein Levit, der an den Ort gelangte: Er kam und sah ihn und ging an der entgegengesetzten Seite vorüber" (Lk. 10,30-32).

Der Herr benutzt ein Bild, das sich so jeden Tag in Israel hätte abspielen können. Er schildert einen Menschen, der von Jerusalem nach Jericho ging. Es war ein Weg hinab und seit eh und je ein rauer, gewundener und gefährlicher Weg - ein Weg, der durch unbewohntes Gebirgsgelände führte, wo Räuber und Wegelagerer ihr Unwesen trieben.

Bei dem nicht näher beschriebenen Menschen wird es sich um einen Juden gehandelt haben. Diese Einzelheit ist für das Gleichnis nicht ganz unbedeutend. Wäre dieser Reisende nicht vom Volk der Juden gewesen, hätte der Herr dies sicher angemerkt. Auch hätte Er dem „Priester" und „Leviten" sonst einen willkommenen, wenn auch unberechtigten Vorwand dafür geliefert, sich dem unter die Räuber Gefallenen nicht zu nähern.

Es war also einer der jüdischen Mitbrüder, der auf seinem Weg nach Jericho unter Räuber fiel. Diese raubten ihn aus, verwundeten ihn lebensgefährlich und ließen ihn dann in diesem beklagenswerten Zustand achtlos liegen. Das alles war sicherlich das genaue Gegenteil davon, den Nächsten zu lieben wie sich selbst.

Doch jetzt kommt ein Priester in unser Blickfeld. Er geht denselben Weg. Wahrscheinlich hat er seinen wöchentlichen Tempeldienst in Jerusalem erfüllt und geht nun nach Hause. Nach jüdischer Überlieferung befand sich in Jericho eine Priestersiedlung. Er erblickt den armen, halb toten Menschen und geht, so weit die Straße es erlaubt, an der entgegengesetzten Seite vorüber. Obwohl er ein Vertreter des Gesetzes ist, sieht er sich nicht gefordert, diesem Menschen zu helfen. Er hat kein Herz für ihn. Er kommt zwar gerade aus dem Heiligtum Gottes, wo das Volk regelmäßig im Gesetz der Liebe unterwiesen wird, aber er selbst verletzt dieses Gebot aufs Sträflichste. Er sieht den halb toten Menschen daliegen; vielleicht sind Hilferufe oder Stöhnen zu hören. Und es ist einer von seinen Brüdern! Doch das alles kümmert ihn nicht. Keinesfalls möchte er sich verunreinigen. Und so eilt er davon, denn niemand sieht ihn, vielleicht nicht einmal der Leidende - niemand, außer Gott.

Ist das zuweilen nicht auch unser Bild, liebe Freunde? Haben wir verstanden, wer unser Nächster ist? Wir nehmen durch die Gnade Gottes eine hohe, geistliche Stellung ein. Aber versagen wir nicht oft darin, in dem, der in echter Not ist und den der Herr in unseren Weg führt, unseren Nächsten zu sehen? Helfen wir ihm in Liebe? Dieser Priester jedenfalls wusste so wenig wie der Schriftgelehrte, wer sein Nächster war. Mit einer gesetzlichen Einstellung findet man auch nie die rechten Beweggründe noch die Kraft für das, was Gott wohlgefällt. Nur die Liebe vermag das.

Als Nächstes erscheint ein Levit. Entsprechend seiner Stellung ist er der Nächste nach dem Priester, und er verhält sich ebenso wie dieser. Auch er gelangt an den Ort, wo der halb tote Mensch liegt, sieht ihn in seinem Elend und geht an der entgegengesetzten Seite vorüber. Er wiederholt die Handlungsweise des Priesters, und das ist böse genug. Als Levit hat er mit den heiligen Geräten im Tempel zu tun, aber das vermag nicht, sein Herz für seinen Nächsten zu erwärmen. Müssen nicht auch wir diese Doppelgleisigkeit, diese Gefühllosigkeit fürchten?

„Wer ist unser Nächster?" Unser Nächster ist der, der unserer Hilfe und Liebe bedarf. Aus dem bisher Gesagten geht jedoch hervor, dass wir ihn nicht nur unter den unbekehrten Menschen suchen müssen. Ein Hinweis aus 2. Mose 12 in Verbindung mit dem Passahmahl mag uns da wertvolle Hilfe bieten: „Und wenn das Haus nicht zahlreich genug ist für ein Lamm, so nehme er es und sein Nachbar, der Nächste an seinem Haus, nach der Zahl der Seelen" (Vers 4). Unser Nächster ist auch der, mit dem wir uns gemeinsam von dem geschlachteten Lamm nähren. So finden wir unsere Nächsten auf beiden Seiten; unter den Kindern der Welt, mit denen uns keine geistliche Gemeinschaft verbindet, und unter den Kindern Gottes, mit denen wir auf mehr als eine Weise innig verbunden sind.

Im Gleichnis vom verlorenen Schaf< und im Gleichnis von der verlorenen Drachme< in Lukas 15 finden wir erneut die Nachbarn und Freunde, Dort sind es solche, die sich über das, was verloren war, freuen - mitfreuen mit dem, der es gefunden hat. Bewegende Wahrheit: Wir sind berufen, ein Volk zu sein, das Ihm, dem guten Hirten, nahe ist und gewürdigt, als Seine >Nächsten< Seine Freude mit Ihm zu teilen! Das geht natürlich über das hinaus, was Gegenstand unseres Gleichnisses ist.

Aber ein gewisser Samariter, der auf der Reise war, kam zu ihm hin; und als er ihn sah,, wurde er innerlich bewegt und er trat hinzu und verband seine Wunden und goss Öl und Wein darauf; und er setzte ihn auf sein eigenes Tier und führte ihn in eine Herberge und trug Sorge für ihn. .Und am folgenden Tag zog er zwei Denare heraus und gab sie dem Wirt und sprach: Trage Sorge für ihn; und was irgend du noch dazu verwenden wirst., werde ich dir bezahlen, wenn ich zurückkomme. Wer von diesen dreien., meinst du, ist der Nächste gewesen von dem, der unter die Räuber gefallen war? Er aber sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Jesus aber sprach zu ihm: Geh hin und tu du ebenso"
(Lk 10, 33-37)

Zwischen den Juden und den Samaritern bestand eine tiefe Abneigung und Feindschaft. Die Samariter waren heidnischer Herkunft, und sie wurden in der Synagoge öffentlich verflucht. Nie wurden sie als Proselyten angenommen; ihre Speise zu essen wurde dem Essen von Schweinefleisch gleichgesetzt; und es war für einen Juden besser zu leiden, als ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Wir merken, welche starken Akzente der Herr in Seinem Bild setzt: Gerade solch ein den Juden Verhasster ist es, der in dem schwer Verwundeten seinen Nächsten erkennt. Durch Liebe und Mitleid bewegt, tut er an ihm alles, was ihn vor dem sicheren Untergang bewahrt. Welch eine Gnade wird hier sichtbar! Der Fremde sorgt selbst für die Zeit, während der er abwesend sein würde. Für alles kommt er auf. Und er würde den unter die Räuber Gefallenen nicht vergessen, wenn er weiterreiste, sondern würde bei gelegener Zeit wiederkommen und erwiesene Treue belohnen. Mit dieser Zusicherung schließt das Gleichnis.

Auf die Frage des Herrn, wer von diesen dreien der Nächste gewesen ist von dem, der unter die Räuber gefallen war (Vers 36), gibt der Gesetzgelehrte wieder eine treffliche Antwort.

Dabei benutzt er eine Wendung, die unserem Gleichnis seinen Namen verliehen hat: „Der die Barmherzigkeit an ihm tat." Ja, es war Barmherzigkeit, die hier geübt wurde. Dieser Gesinnung sollte auch er sich befleißigen, und sie sollte gewiss auch uns kennzeichnen, die wir selbst Gegenstände der großen Barmherzigkeit Gottes geworden sind.

Das Gleichnis in seiner vorbildlichen Bedeutung

Dem aufmerksamen Leser ist vielleicht aufgefallen, dass in der Frage des Herrn in Vers 36 eine Umkehrung der Blickrichtung enthalten ist. Bisher war der >Nächste< stets der, der die Barmherzigkeit empfangen sollte. Aber jetzt ist der >Nächste< der, der die Barmherzigkeit übt. Ob der Herr damit nicht den Blick auf Sich selbst lenken will - auf den wahren >barmherzigen Samariter
Von verschiedener Seite aus ist bestritten worden, dass dieses Gleichnis oder diese Begebenheit außer der sittlichen überhaupt eine vorbildliche, prophetische Bedeutung habe. Die angeführten Argumente lassen sich mit einer einfachen Feststellung entkräften: Wenn der Herr Jesus eine Frage beantwortet, so geht Er gewöhnlich in Seiner Gnade und Weisheit weit über das hinaus, was erfragt wurde, und stellt größere Wahrheiten und erhabenere Grundsätze vor, die das Gefragte wohl mit einschließen, selbst aber von übergeordneter Tragweite sind.

So ist es auch hier. Das Gebot zur Nächstenliebe wird eingekleidet, wird dargestellt durch das Handeln Gottes im Evangelium. Das ist es auch, was unserem Gleichnis erst seine eigentliche Schönheit gibt. Wer von uns jubelt nicht bei dem Gedanken, dass das vollkommene Beispiel für die Liebe zum Nächsten der wahre >barmherzige Samariter<, eben unser Herr und Heiland, ist? Gewiss müssen wir bei einem Gleichnis stets vor einer Überdeutung auf der Hut sein. Dennoch tragen manche Einzelheiten, die der Herr erwähnt, unbedingt eine übertragene Bedeutung, ob sie von den Hörern damals verstanden wurde oder nicht. Die Botschaft des Gleichnisses nur auf die sittliche Seite zu beschränken würde großen Verlust bedeuten.

Betrachten wir kurz einige dieser Einzelheiten, zunächst den Menschen, der von Jerusalem nach Jericho hinabgeht. Verlässt er nicht den Ort des Segens, um zum Ort des Fluches zu gelangen? Er ist damit ein Bild des natürlichen Menschen, des ganzen menschlichen Geschlechts, das diesen Weg geht. Der Weg fort von Gott ist immer ein Weg „hinab" - ein Weg, auf dem man unter die Macht Satans gerät und Schaden an seiner Seele nimmt.

Was den Priester und den Leviten angeht, so verkörpern sie das Gesetz und dessen Unfähigkeit, den Menschen aus seinem erbarmungswürdigen Zustand zu befreien. Die Religion kann einen Menschen, der in seinen Sünden tot ist, nicht erretten. Was er braucht, ist ein Heiland, der ihn nicht allein vor dem Verderben errettet, sondern ihm auch Leben bringt.

Der Samariter ist ein Bild dieses Erretters, des Herrn Jesus. Mit welch einem gesegneten >Aber< - einen starken Gegensatz markierend - wird Er damit im Gleichnis eingeführt: „Aber ein gewisser Samariter ..."! Es erinnert uns an die Stelle in Epheser 2: „Gott aber, der reich ist an Barmherzigkeit, wegen seiner vielen Liebe, womit er uns geliebt hat, hat auch uns, als wir in den Vergehungen tot waren, mit dem Christus lebendig gemacht" {Verse 4.5). Oder wir denken an Römer 5: „Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist" (Vers 8).

Der Samariter war „auf der Reise". Das spricht von der i Menschwerdung des Herrn oder schließt sie mindestens mit ein. Auch in dem Gleichnis vom >hochgeborenen Mann< in Lukas 19 wird von einer Reise gesprochen, aber sie geht in eine andere Richtung - in die Herrlichkeit. Dort wird die Himmelfahrt des Herrn vorgebildet. Aber bei beiden Reisen wird jeweils ein Zurückkehren angedeutet. Das ist sehr schön. Hier indes kommt der Sohn des Menschen vom Himmel auf die Erde, um das zu suchen und zu erretten, was verloren ist (Lk 19,10). So war Er „auf der Reise" und kam zur rechten Zeit zu dem Verwundeten. Er ging nicht wie die anderen nach Jericho, dem Ort des Fluches, hinab. Es heißt nur: „... der auf der Reise war." Und was für eine Reise war das, die Er unternahm, um bis zu uns Elenden und Verlorenen zu kommen! Dazu musste Er Mensch werden.

Wer kann dies Lieben voll erfassen?
Hier, unter Sündern,, ziehet ein
Er, den das Weltall nicht kann fassen
- will vollkommener Diener sein!

Ja, mehr noch, Er musste sich bis zu uns Armen herabbeugen und unseren tiefsten Bedürfnissen entsprechen. Und Er hat es getan - Sein Name sei dafür gepriesen! Er hat für uns weit mehr getan als der Samariter in dem Gleichnis: Er hat Sein Leben für uns gelassen, damit wir durch Ihn leben möchten.

Tiefer noch muss die Liebe gehen
hat sich an unsern Platz gestellt:
Er hing am Kreuz in Schmach und Wehen,
starb für eine verlorene Welt!

Wie berührt uns auch der Hinweis: „Und als er ihn sah, wurde er innerlich bewegt"! Wenn der Herr Jesus das Elend des gefallenen Menschen sieht, ist Er darüber innerlich bewegt. Immer wieder finden wir in den Evangelien diesen ergreifenden Hinweis. In Lukas 15 heißt es von dem Vater, dass er, als er seinen verlorenen Sohn von fern sah, innerlich bewegt wurde (Vers 20). So erfüllen dieselben Empfindungen sowohl den Vater als auch den Sohn, wenn sie „sehen", wohin der Mensch unter der Herrschaft Satans gekommen ist.

Diese heiligen Empfindungen im Herzen des Herrn werden im Gleichnis auch dadurch dargestellt, dass der Fremde offenbar Teile seiner eigenen Kleidung benutzte, um damit die Wunden des schwer Verletzten zu verbinden. Es war sein eigener Wein und sein eigenes Öl, womit er die Wunden behandelte. Und dann setzte er ihn auf sein eigenes Tier und führte ihn in die Herberge. Lässt uns das nicht an das Wort aus 2. Korinther 8 denken? „Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, dass er, da er reich war, um euretwillen arm wurde, damit ihr durch seine Armut reich würdet" (Vers 9).

Das Gleichnis schließt mit dem Hinweis auf das Zurückkommen des Wohltäters. Ja, der Herr Jesus wird wiederkommen! In der Zwischenzeit sind wir der Obhut des anderen Sachwalters anvertraut, des Heiligen Geistes, der uns in die ganze Wahrheit leitet.

Die Herberge mag auf die Versammlung (Gemeinde) hindeuten, die in der Zeit des Evangeliums offen ist für jeden von der Art dessen, den der barmherzige Samariter dorthin brachte.

Und die zwei Denare schließlich, wovon reden sie? Die schönste Erklärung für sie scheint mir die zu sein, dass dieser Betrag für Unterkunft und Verpflegung des Schutzbefohlenen nicht für lange Zeit ausreicht. Der barmherzige Samariter wird bald zurückkehren.

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Von Christian Briem gibt es ein zweibändiges Werk über die Gleichnisse des Herrn, das über www.csv-online.de bestellt werden kann.

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