„Du aber sei nüchtern in allem"

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Keine Abschieds-Romantik

Wenn man wie Paulus den Märtyrertod zu erwarten hat und sich schon „als Trankopfer gesprengt" sieht, dann bleibt kein Raum für Abschieds-Romantik; dann gilt es mit klarem Blick und geradlinig die letzten Schritte des Laufes zu vollenden. Aber diese Art Nüchternheit ist nicht kalt; sie ist der Ausdruck dessen, dass einer Boden unter den Füßen hat, weil er „weiß, wem er geglaubt hat". Und aus dieser Festigkeit heraus kann Paulus mit liebendem Herzen raten, helfen und Wegleitung geben und sogar die Hoffnung ausdrücken, er könnte Timotheus doch noch einmal wiedersehen.

Der Optimist hofft, dass es nicht so schlimm kommen wird, wie zu befürchten ist. Der Pessimist befürchtet, das Schlimmste könnte eintreten. Beides ist eines Gläubigen unwürdig, und vor beidem bewahrt uns die Nüchternheit. Man hört gelegentlich sagen: Der Verstand rechnet, aber der Glaube rechnet nicht, sondern vertraut. - Sicher ist Glaube ohne Vertrauen nicht denkbar. Und doch rechnet auch der Glaube, aber er rechnet mit Gott. Darin liegt der Unterschied.

Nüchtern und Not und Leid

Es gibt Situationen, in denen man blind vertrauen muss: bei Krankheiten und anderen Fügungen Gottes, denen wir als Menschen ausgesetzt sind. Was für ein Segen, dass wir dann wissen: „Herr, unsre Zeiten sind in deiner Hand, nichts kann uns treffen, das du nicht gesandt." Geht es aber um den aktiven Teil unseres Glaubenslebens, um die Erfüllung unserer Aufgaben, das Bewahren des anvertrauten Gutes und um den Glaubensweg, den wir gehen, dann brauchen wir dieses nüchterne Rechnen mit Gott.

Ein Blick auf den Zusammenhang in 2. Timotheus 4 zeigt, dass es bei der Aufforderung „Du aber sei nüchtern in allem" zunächst um die Gefahr des schwärmerischen Abweichens von der gesunden Lehre des Wortes Gottes geht. Und diese Gefahr ist heute so aktuell wie damals. Charismatische Strömungen, „betrügerische Geister und Lehren von Dämonen" (1. Tim 4,1), sinnentstellende Verdrehungen des Bibeltextes sind Beispiele dafür.

Nüchtern in Wort und Kampf

Aber Timotheus sollte nüchtern sein in allem. Petrus drückt Ähnliches aus mit den Worten: „Deshalb umgürtet die Lenden eurer Gesinnung, seid nüchtern und hofft völlig auf die Gnade, die euch gebracht wird bei der Offenbarung Jesu Christi" (1. Pet 1,13). Wir sollen unsere Gedanken nicht umherflattern lassen wie ein nicht gegürtetes Gewand, sondern in Nüchternheit mit der Gnade rechnen. Das muss unsere Grundhaltung sein in allem. Paulus lebte so. Das wird auch deutlich in Augenblicken des Kampfes. Bei seiner Verantwortung vor König Agrippa hatte er auf den Vorwurf von Festus: „Du bist von Sinnen, Paulus!", mit Recht entgegnen können: „Ich rede Worte der Wahrheit und der Besonnenheit" (Apg 26,24.25). Nüchternheit und Besonnenheit bedeuten, dass wir in unserem Geist ruhig und gesammelt sind, frei von Leidenschaft und dem benebelnden Einfluss von Stimmungen. Sonst bekommt die Welt Recht, die sagt: „Nie ist der Mensch ungerechter, als wenn er für die Gerechtigkeit zu kämpfen meint." Aber das wäre nicht der Kampf, den Gott will. Wenn Judas uns auffordert, „für den einmal den Heiligen überlieferten Glauben zu kämpfen", dann erfordert das wohl unsere ganze Entschiedenheit; aber Entschiedenheit heißt nicht Kampfstimmung. Darum wollen wir nicht vergessen, dass da, wo der Kampf des Geistes geführt wird, immer auch das Fleisch mitzukämpfen sucht. Dadurch aber gleitet der Kampf ab auf das Vertreten von Standpunkten, und die Interessen des Herrn bleiben auf der Strecke. Leider sieht man das meist erst an den Folgen - doch dann ist es zu spät.

Sehen wir uns an der Schwelle des neuen Jahres ein wenig um, dann macht uns das nachdenklich. Zu sehr liegt im Volk Gottes vieles im Argen. Und das vergangene Jahr hat die ersehnte Stabilisierung nicht gebracht. Wie wohl tut uns dann das Wort, das ebenfalls an Timotheus gerichtet ist: „Gott hat uns nicht einen Geist der Furchtsamkeit gegeben, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit" (2. Tim 1,7). Was für ein Geschenk: die Kraft Gottes zum Dienst, die Liebe als Beweggrund und die Besonnenheit als Tugend.

Kraft Gottes zum Dienst, Liebe als Beweggrund, Besonnenheit als Tugend

So wollen wir einmal mehr „die Lenden unserer Gesinnung umgürten": zum Ausschreiten auf dem Weg, der vor uns liegt, und zur Arbeit für den Herrn. Und wenn wir uns auf Seine kostbaren Verheißungen stützen, dann wollen wir auch das in Nüchternheit tun. Es bleibt wahr und ist ein überaus bewegendes Zeugnis Seiner Treue, dass der Herr in der Mitte ist, und wären es auch nur zwei oder drei, die versammelt sind in Seinem Namen. Aber wir sollten es nicht Elia gleichtun, der meinte: „Ich allein bin übrig geblieben." Wenn es wirklich irgendwo dahin kommt, dass es nur noch zwei oder drei sind, dann ist das eine traurige Sache und kein Anlass zu heldenhaften Empfindungen. Gerade deshalb ist es ja ein so überwältigendes Zeugnis der Treue des Herrn, dass Er trotz allem zu Seiner Verheißung steht.

David sagt: „Mit meinem Gott werde ich eine Mauer überspringen." Das unmöglich Erscheinende im Vertrauen auf Gott zu wagen, Ihn beim Wort zu nehmen - dazu wollen wir einander ermuntern, auch in diesem Jahr.

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