Einleitende Bemerkungen zum Propheten Obadja (5) (FMN)

Lesezeit: 6 Min.
  1. Wer spricht durch Obadja? 1

Der Bibeltext beginnt mit diesem Satz: „So spricht der Herr, Herr, über Edom: Eine Kunde haben wir von dem Herrn gehört“. Mit anderen Worten: Gott stellt sich hier mit zwei Namen oder Titeln vor:

  1. Zunächst bezeichnet Er sich als „Herr, Herr“ (hebr. Adonai Jahwe). Diese Zusammenstellung der zwei Namen zeigt die Autorität, mit der Gott spricht. Zugleich offenbart dies seine Beziehung zu seinem eigenen Volk Israel.

Das erste Mal finden wir dieses Paar „Herr, Herr“ in 1. Mose 15,2 – außerordentlich „passend“, wenn man das in Ehrfurcht über den heiligen Text der Schrift sagen darf. So spricht Abraham, der Erzvater Israels Gott dort an: „Und Abram sprach: Herr, Herr, was willst du mir geben?“ (vgl. V. 8). Tatsächlich stellt man fest, dass dieser Doppelname immer wieder benutzt wurde, wenn man den Gott Israels in Gottesfurcht ansprach. In den Propheten lesen wir, dass Gott selbst wiederholt von sich so spricht. Es fällt auf, dass der Geist Gottes diesen Namen im Propheten Hesekiel über 200 Mal verwendet.

In unserem Buch zeigt Er damit, dass Er sich mit großer Autorität für sein eigenes Volk einsetzte, hier die Juden, das heißt den Überrest des Südreiches. Die Nachkommen Esaus verfolgten Juda und behandelten es grausam. Jahwe, der Gott Israels, ließ das jedoch nicht mehr zu: Jetzt würde Er zu ihren Gunsten Gericht üben.

  1. Fünfmal lesen wir in diesem Buch dann, dass sich Gott „nur“ Herr nennt (Jahwe). So hatte Er sich Mose offenbart als der „Ich bin, der ich bin“ (2. Mo 3,14). In dieser Liebe und Barmherzigkeit begleitete Er sein Volk während der Wüstenreise. Trotz ihrer vielen Sünden würde Er sie aus der Zerstreuung wieder in das Land zurückbringen. Nun aber ermutigte Er sie erst einmal, indem Er das Gericht über einen der größten Feinde, wenn nicht den größten, ankündigte.
  2. Obadja schreibt ein Gerichtsurteil!

Es ist schon eindrücklich, dass sich dieser Prophet nicht in erster Linie mit Israel beschäftigt, sondern mit einem Feind: Edom (Esau). Darin ähnelt er Jona und Nahum, die das Urteil über Ninive, den Assyrer, beschreiben.

Doch Obadja benutzt für seine Botschaft keine Poesie (Gedichtform) und keine Lebensgeschichte, wie wir sie bei Jona finden. Sein kurzes Buch besteht letztlich nur aus einem Gerichtsurteil, das Gott über die Nachkommen Esaus ausspricht. Das ist bemerkenswert. Ab Vers 17 wird dieses Gericht in einen Kontrast zur Errettung Judas gestellt. Ja, Gott wird sogar Juda selbst benutzen, um das Urteil über Edom auszuführen (V. 18-20). Gott benutzt also gerade diejenigen, die dieser Feind vorher überwältigt hatte, um Esaus Nachfahren zu richten.

  1. Wo finden wir die Leiden Jesu in Obadja?

Nochmal zur Erinnerung: Petrus sagt in einer seiner ersten Reden an die Juden etwas über den Inhalt der Weissagungen des Alten Testaments. „Gott aber hat so erfüllt, was er durch den Mund aller Propheten zuvor verkündigt hat, dass sein Christus leiden sollte“ (Apg 3,18).

Wenn wir an Jesaja denken, fällt es uns nicht schwer, im 53. Kapitel diese Schmerzen des Messias zu finden. Micha spricht davon, dass Israel seinen Richter auf die Wange schlagen würde (Mi 4,14). Wo aber lesen wir etwas von der Verwerfung und Trübsal unseres Retters im Buch Obadja? Ohne diesen inspirierten Hinweis des Apostels käme wohl kaum niemand auf die Idee, sich auf diese Suche zu machen.

Tatsächlich spricht der Geist Gottes in den Versen 12-14 davon, dass solche, die zur erweiterten Familie Judas gehörten – die Edomiter – Juda hochmütig und brutal behandelt hatten und sich gefreut hatten über deren Untergang und Bedrängnis. Esau war ja Bruder Jakobs und ältester Sohn Isaaks und Rebekkas. Gott nannte auch die Nachkommen „Bruder“ Israels (5. Mo 23,8). Später gab es einmal einen Bund zwischen Israel (Nordreich), Juda (Südreich) und Edom (2. Kön 3,9). Die Edomiter sahen sich als Erben des verheißenen Landes an (Hes 35,15).

Das ist neben dem historischen Kontext zunächst ein prophetischer Hinweis darauf, dass der künftige treue Überrest vonseiten dieser Feinde „aus der eigenen Verwandtschaft“ leiden muss. Gerade um diesem Überrest aus „eigener Erfahrung“ eine Hilfe sein zu können, hat der Herr Leiden dieser Art in seinem Leben getragen (vgl. Jes 63,9). Denn auch Er wurde besonders von seiner eigenen „Familie“, seinem Volk verworfen und geringschätzig behandelt, als Er auf diese Erde kam und als Jude in Israel lebte. Besonders die Führer brachten Ihn ans Kreuz. Lesen wir dazu einige Ausdrücke aus den Versen 12-13:

  • „Du solltest nicht auf den Tag deines Bruders sehen am Tag seines Missgeschicks“: Edom schaute sich das äußere Unglück Judas in der Belagerung durch Babel voller Vergnügen und Schadenfreude an. Es freute sich über diese Niederlage Judas. – Als Jesus am Kreuz hing, sahen die Führer Judas ebenso mit Verachtung auf ihren eigenen Messias. Der Herr musste klagen: „Alle meine Gebeine könnte ich zählen. Sie schauen und sehen mich an [sehen mit Genugtuung auf mich]“ (Ps 22,18). Wie muss unseren Retter dieser herablassende Blick getroffen haben.
  • „Und dich nicht freuen über die Kinder Juda am Tag ihres Untergangs“: Im Markusevangelium berichtet der Geist Gottes davon, wie sich drei Gruppen in Schadenfreude und Lästerung über den Gekreuzigten ausließen: „Und die Vorübergehenden [1.] lästerten ihn, indem sie ihre Köpfe schüttelten und sagten: Ha, der du den Tempel abbrichst und in drei Tagen aufbaust, rette dich selbst und steige herab vom Kreuz. Ebenso spotteten auch die Hohenpriester samt den Schriftgelehrten [2.] untereinander und sprachen: Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten. Der Christus, der König Israels, steige jetzt vom Kreuz herab, damit wir sehen und glauben. Auch die mit ihm gekreuzigt waren [3.], schmähten ihn“ (Mk 15,29-32). Kann man sich eine größere Schande und Schmach vorstellen, als an einem Kreuz zu hängen, am Fluchholz? Dieser Hohn muss unseren Herrn im Innersten getroffen haben. Er hat es wortlos und in Hingabe für Gott, voller Liebe erduldet.
  • „Noch dein Maul aufsperren am Tag der Bedrängnis“: In Psalm 22 lesen wir, wie der Herr diese Brutalität, von der dieses offen stehende Maul spricht, erleben musste. „Sie haben ihr Maul gegen mich aufgesperrt wie ein reißender und brüllender Löwe ... rette mich aus dem Rachen des Löwen!“ (Ps 22,14.22). Der Teufel, hier gesehen als brutales Raubtier, benutzte Menschen, um den Herrn gemein und furchtbar zu drangsalieren. Unser Retter hat diese Unmenschlichkeit tief empfunden. Wir dürfen nicht denken, dass Er diese Gewalttat und die Leiden nicht gefühlt hätte, weil Er vollkommen und Gott selbst war. Im Gegenteil! Wie schrecklich war das für Ihn!
  • „Noch deine Hand ausstrecken nach seinem Vermögen am Tag seiner Not“: Was für einen Besitz hatte unser Herr auf der Erde? Praktisch keinen! Als Petrus vorlaut meinte, sein Meister hätte die Doppeldrachme für den Tempel sicherlich schon bezahlt, macht ihn Jesus darauf aufmerksam, dass Söhne eigentlich keine Steuer zahlen müssten. Dennoch wollte Er keinen Anstoß geben und diesen Beitrag trotzdem leisten. Der Größte auf Erden aber hatte nicht das Geringste in seiner Tasche. Er erwies sich als Schöpfer, der einem Fisch befehlen konnte, das Geldstück zu verschlucken und Petrus an die Angel zu gehen. Geld hatte Er selbst keines. Aber das wenige Eigentum, das Er auf dem Weg zum Kreuz besaß – seine Kleider – nahm man ihm weg. Danach streckte man zu guter Letzt auch noch die Hand aus. Er sah schweigend zu und erduldete auch dies.

Es beeindruckt mich, dass Gott, als Er die Worte unseres Propheten inspirierte, in erster Linie an die Leiden seines Sohnes dachte. Was für eine Entdeckung wird es für den künftigen Überrest Judas in der Drangsalszeit sein (Mt 24,21): Sie werden erkennen, dass exakt das, was sie damals von Edom erlebten und dann noch einmal erfahren müssen, dasselbe ist, was sie selbst ihrem Messias angetan haben. Nur gibt es einen gewaltigen Unterschied: Ihre Vorfahren haben Ihn damals im Stich gelassen, verspottet, drangsaliert. Er dagegen wird dann bei ihnen sein und sie ermutigen (Jes 43,2). So steht Er auch uns heute bei, wenn wir von der Welt verachtet und verworfen werden. Er weiß wirklich, was es bedeutet, in größten Leiden einsam und ganz allein zu sein.

Folge mir nach – Heft 4/2025

 

Fußnoten

  • 1 Ich benutze die Nummerierung dieser „Fragen“ bzw. Zwischenüberschriften aus dem zweiten Teil der Artikelserie. So kann man beides besser miteinander verbinden.
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Artikelreihe: Schlüssel für das Verständnis der Propheten des Alten Testaments

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