„Kanonisch“ – was bedeutet dieser Begriff?
Das Wort „Kanon“ kam über die lateinische Vulgata aus dem Griechischen zu uns. Allerdings liegt der Ursprung dieses Wortes nicht im Griechischen selbst, sondern in dem Hebräischen Wort „qaneh“ (Rohr). Ein Rohr wurde häufig als „Messrohr“ gebraucht (vgl. Hes 40,3), sodass die ursprüngliche Bedeutung von „qaneh“ „Richtschnur“ ist1. Mit dieser Bedeutung wird es auch im Neuen Testament verwendet. Im Galaterbrief schreibt Paulus: „Und so viele nach dieser Richtschnur (griech. kanon) wandeln werden – Friede über sie und Barmherzigkeit, und über den Israel Gottes“ (Gal 6,16). So wurde es auch anfangs von Origenes (184-254), einem Kirchenvater, benutzt. Für ihn waren die kanonischen Schriften der Bibel „Prinzipien für Glauben und Leben“.
Später bezeichnete der Kirchenvater Athanasius (296-373) den Kanon als eine „Liste von Büchern, die göttliche Autorität besitzen“. Heute versteht man unter dem Kanon die Sammlung der 66 Schriften der Bibel, die Gott inspiriert hat.
Nebenbei bemerkt findet sich bei Athanasius ein vollständiges Verzeichnis aller neutestamentlichen Schriften, die später auf den Synoden von Hippo (393) und Karthago (397 und 419) von der Westkirche als Heilige Schrift „bestätigt“ wurden.
Das Kennzeichen kanonischer Bücher
Doch was sind nun die Maßstäbe in der Vergangenheit gewesen, dass ein Buch als „kanonisch“ anerkannt wurde? Woran orientierte man sich? Gab es bestimmte Kennzeichen?
Im Jahr 1780 behauptete der Orientalist, Historiker und Theologe J. G. Eichhorn (1752-1827), dass ein Kriterium eines kanonischen Buches der Israeliten sein Alter sei. Das als Kriterium anzuerkennen ist jedoch, kaum haltbar. Denn es gibt sehr alte Bücher, wie das Buch Jaschar (vgl. Jos 10,13) oder das Buch der Kämpfe des Herrn (vgl. 4. Mo 21,14), die nicht in den Kanon der Bibel aufgenommen wurden. Dagegen gibt es inspirierte Schriften, die direkt nach ihrer Entstehung, aus damaliger Sicht in einem noch sehr jungen Alter, sofort in den Kanon aufgenommen und von den Juden als Gottes Wort anerkannt wurden.
Um 1850 behauptete F. Hitzig, dass die „geweihte“ hebräische Sprache ausschlaggebend sei, ob ein Bibelbuch kanonisch ist oder nicht. Auch diese Behauptung ist irreführend. Denn erstens gibt es eine Reihe hebräischer Schriften, die nicht zum inspirierten Wort Gottes und damit nicht zum Kanon der Bibel gehören. Zweitens gibt es sogar inspirierte Texte im Alten Testament, die nicht in Hebräisch, sondern in Aramäisch geschrieben wurden und dennoch zum Kanon der Bibel gezählt wurden (Esra 4,8-6,18; 7,12-26; Dan 2,4-7.28). Außerdem ist das Neue Testament in der damaligen Weltsprache Griechisch geschrieben.
Andere Überlegungen, ob ein Buch überhaupt kanonisch sein kann, waren da schon zielführender. So wurden notwendige Kriterien formuliert. In einem kanonischen Buch darf kein historischer Fehler enthalten sein. Außerdem sollte die Formulierung „so spricht der HERR“ (oder ähnlich) vorkommen. Letzteres fehlt beispielsweise in Apokryphen, weswegen sie damals nie zum Alten Testament gezählt wurden. Auch im Buch Esther fehlt dieser Ausdruck – aber die ganze Handlung lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass Gott im Hintergrund wirkte. Deshalb wurde das Buch dennoch als kanonisch betrachtet.
Das wesentliche Kennzeichen
Diese und auch andere Behauptungen bilden demnach keinen endgültigen Maßstab in der Frage nach der Kanonizität. Der einzige Maßstab, ob eine Schrift zum Kanon der Bibel zählt oder nicht, begründet sich in der Inspiration. Denn nur die inspirierten Schriften besitzen göttliche Autorität.
Es waren also weder die Juden noch irgendwelche „geistlichen Führer“, die Bibelbücher mit Autorität versahen und in den Kanon der Bibel einfügten. Im Gegenteil! Die Autorität der durch den Heiligen Geist inspirierten Schriften wurde von den ersten Lesern als Gottes Wort erkannt und als Gottes Wort anerkannt (siehe dazu: 1. Thes 2,13: „Und darum danken auch wir Gott unablässig dafür, dass ihr, als ihr von uns das Wort der Kunde Gottes empfingt, es nicht als Menschenwort aufnahmt, sondern, wie es wahrhaftig ist, als Gottes Wort, das auch in euch, den Glaubenden, wirkt.“ Damals, als das Wort Gottes noch nicht vollendet war, sorgte Gott durch die Apostel dafür, dass sogar mündliche Belehrung fehlerfrei war, inspiriert von Ihm). Im Gegensatz dazu wurden alle Schriften, die nicht inspiriert waren und demnach keine solche Autorität besaßen, abgewiesen.
Kein Mensch verlieh also den inspirierten Schriften auf irgendeiner Synode Autorität, sondern die Bücher der Bibel besaßen aufgrund ihrer Inspiration die Autorität von Beginn ihrer Entstehung an in sich selbst. Diese wurde von Anfang an anerkannt, sodass sie in Folge dessen zum Kanon gezählt wurden und bis heute in der Bibel enthalten sind. Der wesentliche Grund, weshalb sich die Bücher der Bibel von religiösen Schriften unterscheiden, liegt also in der Inspiration. Sie verleiht den Schriften göttliche Autorität.
Fußnoten
- 1 Es kann auch mit Maßstab, Standard oder Regel übersetzt werden.
Quelle: bibelpraxis.de/a6860.html
Artikelreihe: Die Bibel – ihre Entstehung und Überlieferung
- Teil 1
- Teil 2
- Über das Schreiben 2
- Über das Schreiben 3
- Über das Schreiben 4
- Wurde das Alte Testament zuverlässig überliefert?
- Wurde das Alte Testament zuverlässig überliefert? 2
- Drei Codices des Alten Testaments (ein kurzer Überblick)
- Das Neue Testament entsteht und verbreitet sich
- Griechische Handschriftenfunde des Neuen Testaments 1
- Griechische Handschriftenfunde des Neuen Testaments 2
- Griechische Handschriftenfunde dese Neuen Testaments
- Inspiration (1)
- Inspiration (2)
- Inspiration (3)
- Inspiration (4)
- Inspiration (5)
- Inspiration (6)
- Der Kanon der Bibel (1)
- Der Kanon der Bibel (2)
- Der Kanon der Bibel (3)
- Der Kanon der Bibel (4)
- Der Kanon der Bibel (5)
- Der Kanon der Bibel (6)
- Der Kanon der Bibel (7)
- Der Kanon der Bibel (8)