Mitleid - heute vielfach ein Fremdwort

Bei vielen (mit Sicherheit nicht bei allen) weltlichen Psychiatern und Psychologen in der heutigen Zeit ist wirkliches Mitleid nicht zu finden. Viele solcher Ärzte und Therapeuten haben eine Vielzahl von Patienten zu betreuen und wollen deshalb bewusst einen gewissen Abstand wahren, um so der Gefahr zu entgehen, sich emotional zu sehr mit der Not des Betroffenen einszumachen und nachher selber krank zu werden. Deshalb lehnt man Mitleid (d.h. man leidet mit einer Person) bewusst ab. Aus menschlicher Sicht kann man dies gut nachvollziehen. Wir dürfen eine solche Haltung deshalb nicht verurteilen. Doch wie anders ist unser Herr! Er hatte zu aller Zeit Mitleid mit den Menschen, die Ihn umgeben haben.

Der Herr Jesus - unser Vorbild

„Als es aber Abend geworden war, brachten sie viele Besessene zu ihm; und er trieb die Geister aus mit einem Wort, und heilte alle Leidenden, damit erfüllt würde, was durch den Propheten Jesaja geredet ist, der spricht: „Er selbst nahm unsere Schwachheiten und trug unsere Krankheiten." (Mt 8,16.17) „Und als er sie (die Witwe zu Nain) sah, wurde er innerlich bewegt über sie und sprach zu ihr: Weine nicht!" (Lk 7,13)

„In jenen Tagen, als wieder eine große Volksmenge da war und sie nichts zu essen hatten, rief er die Jünger herzu und spricht zu ihnen: Ich bin innerlich bewegt über die Volksmenge, denn schon drei Tage weilen sie bei mir und haben nichts zu essen." (Mk 8,2) „Als er die Volksmengen sah, wurde er innerlich bewegt über sie, weil sie erschöpft und hingestreckt waren wie Schafe, die keinen Hirten haben." (Mt 9,36)

Immer wieder lesen wir vom Herrn Jesus, dass Er innerlich bewegt war über die Nöte der Menschen, denen Er begegnete. „Innerlich bewegt" - dieser Ausdruck beschreibt einen Zustand, in dem man im Innersten bewegt wird. Unser Herr war zutiefst gerührt, es bewegte Ihn zutiefst, wenn Er die Folgen der Sünde in dieser Welt erblickte. Sind wir innerlich bewegt über das Elend, in dem sich viele Menschen befinden? Der Herr Jesus war innerlich bewegt über die Volksmengen, weil sie wie Schafe waren, die keinen Hirten haben (Mt 9,36). Geht es uns nahe, wenn wir sehen, wie viele Menschen heute den Herrn Jesus ablehnen und ohne Frieden mit Gott auf dem Weg in der Hölle sind?

Als der Herr Jesus hier auf der Erde gelebt hat, hat Er sich immer wieder um solche gekümmert, die krank waren. Er hat sich ihrer angenommen, sich mit ihren Krankheiten und Gebrechen einsgemacht. Er hatte wirklich Mitleid mit den Menschen. Er nahm teil an ihren Nöten. Wenn es in der Weissagung Jesajas heißt, „Er nahm unsere Schwachheiten und trug unsere Krankheiten", dann bedeutet das natürlich nicht, dass der Herr selbst an diesen Krankheiten litt: Er nahm persönlich teil an der Not dieser Menschen. Er machte sich damit eins. Dadurch machte Er ihre Krankheiten sozusagen zu seinen eigenen. Er hat mitgelitten an den Folgen der Sünde in dieser Welt.

Aber auch bei anderen Gelegenheiten sehen wir, dass der Herr Mitleid hatte, so z.B. am Grab des Lazarus, Seines Freundes, wo Er mit den Trauernden geweint hat (Joh 11,33.35.38). Selbst noch am Kreuz von Golgatha, als der Herr in größten Qualen war, sehen wir, dass Er mitfühlend an seine Mutter denkt (Joh 19,26.27). Welch einen wunderbaren Herrn haben wir! Er hatte zu aller Zeit Mitleid mit der Not der Menschen.

Der Herr hatte aber nicht nur während seines Lebens auf der Erde Mitleid mit den Menschen. Das ist auch heute noch so. Wir haben einen mitfühlenden und barmherzigen Herrn (Jak 5,11). Als wahrer Mensch kann Er uns völlig verstehen in den Nöten und Schwierigkeiten, in denen wir uns befinden. Warum? Weil Er selbst auf dieser Erde gelebt hat und deshalb an all unseren Schwachheiten, denen wir als Menschen unterworfen sind, teilgenommen hat. Deshalb kann Er sich als Hoherpriester bei Gott, dem Vater für uns verwenden (Heb 2,18; 4,15; 7,25).

Und wir?

„Freut euch mit den sich Freuenden, weint mit den Weinenden." (Röm 12,15) „Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit,..." (1. Kor 12,26) „Gedenkt der Gefangenen, als Mitgefangene; derer, die Ungemach leiden, als solche, die auch selbst im Leib sind." (Heb 13,3)

Der Herr Jesus ist unser vollkommenes Vorbild. Auch wir sind aufgerufen, Mitleid zu haben - sowohl gegenüber den Menschen dieser Welt als auch untereinander als Glaubensgeschwister. Mit Sicherheit werden wir nie so mitfühlen können wie der Herr Jesus, aber wir wollen uns doch ermuntern, mehr seinem Vorbild zu entsprechen.

Wenn wir das Elend beispielsweise in der Dritten Welt sehen, wo täglich viele Menschen den Hungertod erleiden, empfinden wir dann Mitleid? Wenn wir von körperlichen oder seelischen Nöten unserer Glaubensgeschwister erfahren, haben wir dann Mitleid? Oder wenn wir an die Elendsviertel in den Großstädten unseres Landes denken, wo viele Menschen „dahinsiechen" ohne Hoffnung, wo die Drogenabhängigkeit viele Menschen gefangen hält und regelrecht ruiniert - geht uns das Elend dieser Menschen nahe? Mir geht es oft nicht so, ich muss bekennen, dass mir allzu oft das nötige Mitleid fehlt.

Mitleid hat praktische Auswirkungen

„Aber ein gewisser Samariter, der auf der Reise war, kam zu ihm hin; und als er ihn sah, wurde er innerlich bewegt; und er trat hinzu und verband seine Wunden und goss Öl und Wein darauf; und er setzte ihn auf sein eigenes Tier und führte ihn in eine Herberge und trug Sorge für ihn." (Lk 10,33.34) „Einer trage des anderen Lasten, und so erfüllt das Gesetz des Christus." (Gal 6,2) „Wenn es irgendeine Ermunterung gibt in Christus, wenn irgendeinen Trost der Liebe,... wenn irgend innerliche Gefühle und Erbarmungen,..." (Phil 2,1) „Zieht nun an, als Auserwählte Gottes, als Heilige und Geliebte: herzliches Erbarmen,..." (Kol 3,12) „...nehmt euch der Schwachen an,..." (1. Thes 5,14)

Wenn wir in unseren Herzen Mitleid haben mit solchen, die in Not sind, dann wird das Auswirkungen haben auf unser Tun. Es hat - wie aus den oben zitierten Stellen hervorgeht - zur Folge, dass wir praktische Anteilnahme zeigen und mittragen. Es wird uns dahin führen, uns um die Not unseres Nächsten zu kümmern und vielleicht ein Wort der Ermutigung, der Tröstung oder der Anteilnahme auszusprechen. Gibt es nicht viele Geschwister, die Ermutigung brauchen (ob es im Dienst ist, ob in der familiären Situation, ob in persönlichen Übungen ...)? Oft genügt schon ein fester Händedruck oder die Bereitschaft, einfach nur zuzuhören. Praktische Anteilnahme können wir aber auch zeigen, indem wir materielle oder finanzielle Hilfe leisten. Das Neue Testament fordert uns wiederholt auf, für solche Geschwister Sorge zu tragen, die nicht genug haben (Röm 12,13; 1. Joh 3,17.18; vgl. Apg 11,29.30; Röm 15,26.27; 2. Kor 8,14.15).

Aber vor allem wird uns ein Herz voller Mitleid ins Gebet treiben. Das Gebet ist vielleicht der wichtigste Dienst, den wir tun können für solche, die in Not sind. Ob es leidgeprüfte Mitgeschwister sind oder unsere ungläubigen Klassenkameraden, Arbeitskollegen, Studienkollegen, Nachbarn oder Verwandten, die ohne Gott und ohne Hoffnung auf dem breiten Weg ins Verderben unterwegs sind - wir können sie alle vor den Thron der Gnade bringen. Der Apostel Paulus schreibt in Bezug auf seine jüdischen Brüder (seine leiblichen Verwandten) an die Gläubigen in Rom: „Brüder! Das Wohlgefallen meines Herzens und mein Flehen für sie zu Gott ist, dass sie errettet werden" (Röm 10,1). Paulus war in großer Not, weil seine Angehörigen nicht errettet waren (vgl. Röm 9,2.3). Deshalb flehte er unaufhörlich zu Gott um ihre Errettung. Darin ist er auch uns ein Vorbild. Dasselbe können auch wir tun für unsere ungläubigen Mitmenschen.

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