Dem Zorn Raum geben

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Die Aufforderung, dem Zorn Raum zu geben, kann unterschiedlich gedeutet werden. Es könnte
sich um unseren eigenen Zorn handeln, dem wir Raum oder Weite geben sollen, damit er sich gleichsam nicht entzündet, nicht entlädt. Für diese Auslegung spräche das Wort aus den Sprüchen: „Das Pressen des Zornes ergibt Hader" (Kap. 30,33).

Es ist aber auch möglich, daß der Zorn anderer Menschen gemeint ist. Wir sollen ihm Insofern Raum geben, als wir ihm aus dem Weg gehen, ihm Platz machen, uns ihm nicht widersetzen. Manche Ausleger haben diese Stelle in dieser Weise verstanden.

Eine dritte Möglichkeit der Deutung - ihr schließt sich der Verfasser an - besteht darin, in dem Zorn den Zorn Gottes zu sehen. Eine Reihe von Gründen stützt diese Sichtweise. Zum einen wurde bereits zweimal in diesem Brief der Ausdruck >Zorn< ohne Beifügung gebraucht, und jedesmal war damit der Zorn Gottes gemeint (Kap. 3,5; 5,9). Zum anderen ist der Hauptgedanke unseres Verses doch der, daß wir uns nicht selbst rächen sollen. Dieser Gefahr sind wir immer dann ausgesetzt, wenn uns Unrecht angetan wurde. Aber wir sollen uns nicht selbst rächen, weil die Vergeltung auch des uns angetanen Bösen allein Sache Gottes ist. „Mein ist die Rache; ich will vergelten, spricht der Herr." Würden wir seihst in dieser Weise tätig werden, so würden wir direkt in die Wege Gottes eingreifen. Deswegen wird uns nach der Ermahnung, uns nicht selbst zu rächen (das ist die negative Seite), die weitere gegeben, dem Zorn Gottes Raum zu lassen (das ist die positive Seite), mit der Begründung, es sei allein Seine Sache, Rache und Vergeltung zu üben.

Das griechische Wort für >Raum< bezeichnet einen Ort oder Platz, an dem eine bestimmte Tätigkeit ausgeübt wird. So wird es auch in Epheser 4, Vers 27, benutzt: „Gebt nicht Raum dem Teufel." Wir sollen also dem Teufel nicht einen Platz geben, wo er wirksam werden kann. Wenn es jedoch um Vergeltung von an uns verübtem Bösem geht, dann sollen wir beiseite treten und statt dessen dem Zorn (Gottes) Raum geben, damit er auf dem Weg der Gerechtigkeit wirksam werden kann. Dabei ist es nicht der Gedanke, daß wir dadurch den Zorn von dem abwenden könnten, der ihn verursacht hat. sondern vielmehr, daß wir nicht selbst zu Schaden kommen.

Wir selbst sind ja in unserem eigenen Fall immer die schlechtesten Richter. Das sollten wir auch dann bedenken, wenn uns persönlich Unrecht getan wird. Gott aber ist der unbestechliche Richter, dem nichts und niemand entgeht (1. Pet l, 17). Wenn wir mm darauf verzichten, uns selbst Recht zu verschaffen, so bedeutet das nicht, daß wir das Unrecht zu Recht, das Böse zu Gutem, das Schwarze weiß machen. Legalisierung des Bösen ist mit den Gedanken der Heiligen Schrift unvereinbar. Es bedeutet auch nicht, daß wir keine Antwort auf das Böse des anderen geben könnten. Nein, aber wir überlassen sie Dem, der recht richtet (1. Pet 2, 23). Eine bessere und gerechtere Hand als die deine oder meine wird die Sache aufgreifen und in absoluter Gerechtigkeit zu Ende führen. So liegt sie nicht länger in unserer schwachen, sondern in Seiner starken Hand. Ist dieses Bewußtsein nicht geeignet, uns tiefen Frieden zu geben? Wie tröstlich und stärkend ist daher das in eine Ermahnung gekleidete Wort: „Gebt Raum dem Zorn!"

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