Außerhalb des Lagers (Hebräer 13,11-13)

Lesezeit: 8 Min.

1. Die biblische Bedeutung des Lagers

a) Im Alten Testament

Der Hebräerbrief richtet sich, wie der Name sagt, an Christen, die aus dem Judentum kamen. Daher waren ihnen das Alte Testament und die Geschichte Israels gut bekannt. Wohl in keinem anderen Buch des Neuen Testaments werden so viele Tatsachen aus dem Alten Testament als Vorbilder von neutestamentlichen Heilstatsachen erklärt wie im Hebräerbrief.

Auch das Lager war den gläubigen Hebräern deshalb kein unbekannter Begriff. Es war das Heerlager des Volkes Israel während seiner vierzigjährigen Wanderung durch die Wüste. In dieser speziellen Bedeutung kommt das Wort zum ersten Mal in 2. Mose 16,13 vor: „Und es geschah am Abend, da kamen Wachteln heraus und bedeckten das Lager; und am Morgen war eine Tauschicht rings um das Lager." In diesem Sinn wird das Wort Lager noch viele Male in den Büchern Mose benutzt.

Dieses Heerlager des Volkes Gottes war einmalig und einzigartig auf der Erde. Jehova, der Gott Israels, hatte Sein Volk aus Ägypten herausgeführt, um in der Mitte dieses Volkes zu wohnen und ihr Gott zu sein (2. Mo 29,45). Als Bileam, der eigentlich dazu gedungen worden war, Israel zu verfluchen, das Lager dieses Volkes sah, mußte er ausrufen: „Siehe, ein Volk, das abgesondert wohnt und unter die Nationen nicht gerechnet wird ... Er erblickt keine Ungerechtigkeit in Jakob und sieht kein Unrecht in Israel; Jehova, sein Gott, ist mit ihm, und Jubelgeschrei wie um einen König ist in seiner Mitte . . . Wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel!" (4. Mo 23,9.21; 24,5).
Es war ein heiliges, d. h. für Gott abgesondertes Lager. Deshalb ließ Gott Israel wissen: „Denn Jehova, dein Gott, wandelt inmitten deines Lagers, um dich zu erretten und deine Feinde vor dir dahinzugehen; und dein Lager soll heilig sein, daß er nichts Schamwürdiges unter dir sehe und sich von dir abwende" (5. Mo 23,14). So mußte zum Beispiel jeder Israelit, der durch die Krankheit des Aussatzes nach dem Gesetz unrein war, sich so lange außerhalb des Lagers aufhalten, bis er wieder rein war (3. Mo 13,45.46). Auch wenn jemand auf Gottes Geheiß wegen seiner Sünde getötet werden mußte, so hatte dies außerhalb des Lagers zu geschehen (vgl. 3. Mo 24,14; 4. Mo 15,35).

Sogar bestimmte Sündopfer (vornehmlich diejenigen, deren Blut in das Heiligtum gebracht wurde) mußten außerhalb des Lagers verbrannt werden (2. Mo 29,14; 3. Mo 16,27; vgl. 3. Mo 6,23). Ebenso wurde die Fettasche des Brandopfers an einen reinen Ort außerhalb des Lagers gebracht (3. Mo 6,4). Zur Bereitung des Reinigungswassers mußte eine rote junge Kuh vor das Lager hinausgeführt und dort geschlachtet werden, und ihre Asche wurde außerhalb des Lagers an einen reinen Ort geschüttet (4. Mo 19,9.10). In diesen Vorschriften kommt zum Ausdruck, daß auch die gottgemäße Behandlung der Sünde denjenigen, der sich damit beschäftigen muß, verunreinigt.

Einen besonderen Fall finden wir in 2. Mose 33,7. Aaron hatte auf Wunsch des Volkes ein goldenes Kalb gemacht. Durch diese Sünde des Götzendienstes war das ganze Lager Israels so verunreinigt, daß Mose das Zelt der Zusammenkunft außerhalb des Lagers aufschlug. Jeder, der Gott suchte, mußte nun außerhalb des Lagers hinausgehen.

b) Im Neuen Testament
Im Neuen Testament kommt der Begriff Lager (griech. parembole) außer in der uns beschäftigenden Stelle nur in der Apostelgeschichte und einmal in der Offenbarung vor (Off 20,9 „Heerlager" ), und zwar nur im militärischen Sinn. In Hebräer 13,11 heißt es: „Denn von den Tieren, deren Blut für die Sünde in das Heiligtum hineingetragen wird durch den Hohenpriester, werden die Leiber außerhalb des Lagers verbrannt." Das bezieht sich ohne Zweifel auf die in 3. Mose 6,23 und 16,27 erwähnten Opferhandlungen. Das Lager Israels, in dem Gott Seine Wohnung hatte, mußte vor der Verunreinigung bewahrt bleiben, die mit dem Verbrennen des Sündopfers verbunden war. Hier stellt das Lager die von Gott eingesetzte und anerkannte Ordnung Seines Volkes dar.

Dann folgt Vers 12: „Darum hat auch Jesus, auf daß er durch sein eigenes Blut das Volk heiligte, außerhalb des Tores gelitten." Äußerlich ähnelt dieses Geschehen dem alttestamentlichen Vorbild. Aber in Wirklichkeit besteht ein gewaltiger Unterschied. Die Juden haben ihren Messias, den Sohn Gottes, abgelehnt, mit falschen Beschuldigungen angeklagt und von der römischen Besatzungsmacht zum Tode verurteilen und kreuzigen lassen. Wenn es auch schon lange kein „Lager" Israels im ursprünglichen Sinn mehr gab, so wurde doch entsprechend den alttestamentlichen Gesetzesvorschriften ein Todesurteil außerhalb der heiligen Stadt Jerusalem vollstreckt. Jerusalem wird hier dem einstigen Lager Israels gleichgesetzt.

Welch eine Situation! Die Juden bereiten in Jerusalem in starrer Gesetzeserfüllung die Feier des Passahfestes vor, während zur gleichen Zeit Christus, das wahre Passahlamm, außerhalb des Tores leiden und sterben muß. Das Johannesevangelium weist besonders darauf hin, daß die Juden wegen des bevorstehenden Passahmahls nicht in das römische Prätorium hineingingen, um sich nicht zu verunreinigen (Joh 18,28; vgl. 4. Mo 9,6), und daß sie wegen dieses hohen Feiertages den Pilatus baten, die Leiber der Gekreuzigten abzunehmen (Joh 19,31; vgl. 5. Mo 21,22.23).

So litt und starb das Lamm Gottes in Schmach und Schande außerhalb der Tore Jerusalems, d. h. außerhalb eines Lagers, das in vermeintlicher Orthodoxie, in Wirklichkeit jedoch zur Aufrechterhaltung eines toten religiösen Systems mit verhärteten Gewissen und kalten Herzen den Sohn Gottes verachtet und verworfen hatte. Aber es war nicht nur Haß der Juden, der dem Herrn Jesus diesen schmachvollen Platz außerhalb der Stadt zuwies. Es geschah auch nach dem ewigen Ratschluß und Willen Gottes. Durch das Blut Christi, des wahren und vollkommenen Sündopfers, konnte jetzt ein neues Volk für Gott geheiligt werden.

Hieraus ergibt sich die Schlußfolgerung in Vers 13: „Deshalb laßt uns zu ihm hinausgehen, außerhalb des Lagers, seine Schmach tragend." Gottes Antwort war, daß Er nun Sein irdisches Volk verwarf und beiseite setzte. Jeder Jude, der Errettung suchte, konnte sie daher jetzt nur bei Dem finden, der außerhalb des Tores Jerusalems, an dem Ort der Verachtung, gelitten hat. Das bedeutete: Trennung von einem religiösen System, das sich zwar äußerlich der Beobachtung des Gesetzes rühmte, aber innerlich von seinem Gott weit entfernt war. Darauf weist bereits das Vorbild Moses hin, der das Zelt der Zusammenkunft außerhalb des Lagers aufschlug, nachdem Israel das goldene Kalb gemacht hatte.

Die Trennung von dem religiösen System des Judentums und die damit verbundene Schmach des Christus war für die gläubigen Hebräer offensichtlich ein sehr schwerer Schritt. In der Apostelgeschichte finden wir Hinweise auf die Probleme, die diese Erkenntnis den Judenchristen bereitete. Hatte Gott nicht selbst das Gesetz gegeben? Hatte Er nicht den Bau des Tempels in Jerusalem geboten? Hatte Er nicht den Überrest nach der babylonischen Gefangenschaft in das Land der Väter zurückgeführt? Nun mußten sie lernen, daß, wenn auch das Heil aus den Juden ist, Gott dieses Volk dennoch beiseite gesetzt hatte. Mit der Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jahre 70 n.Chr. wurde schließlich ein deutlich erkennbarer vorläufiger Schlußstrich unter die Geschichte Seines irdischen Volkes gezogen.

2. Die Bedeutung des Begriffes „Lager" heute

Das Hinausgehen „außerhalb des Lagers" in Hebräer 13,13 bedeutet also für die an den Herrn Jesus gläubig gewordenen Juden die innerliche und äußerliche Trennung von dem von Gott beiseite gesetzten jüdischen Gottesdienst. Es geht somit um eine klar erkennbare historische Situation und um eine Entscheidung, die auch heute noch für jeden bekehrten Juden ihre Gültigkeit hat.

Damit ist die Bedeutung dieses Abschnitts jedoch wohl nicht ausgeschöpft. In anderer Form gibt es nämlich heute wieder ebenso ein Lager wie zur Zeit der ersten Christen, nur sind die Kennzeichen dieses Lagers jetzt mitten in der Christenheit vorhanden. Wie konnte es dazu kommen?

Das Judentum übte von Anfang an einen starken Einfluß auf die christliche Kirche aus. Dieser wurde von den Aposteln noch scharf bekämpft. Fast in jedem ihrer Briefe lesen wir davon. Aber nach dem Abscheiden der Apostel setzte sich dieser jüdische Formengeist in der Christenheit in kurzer Zeit durch. Was im Geist begonnen hatte, endete schon bald im Fleisch.

Man begann großen Wert auf Äußerlichkeiten zu legen, die aus dem Alten Testament entlehnt wurden: geweihte Gebäude, heilige Gegenstände, kostbare Kleidung usw. Die freie Leitung des Heiligen Geistes wurde durch genau festgelegte Formen und Rituale ersetzt. An die Stelle der von Gott gegebenen Gaben traten die geistlichen Ämter der Priester und der Bischöfe. Dadurch entstand eine Trennung von sogenannten „Geistlichen" und „Laien". Nur die „Geistlichen" konnten bestimmte „heilige Handlungen" ausüben. Das allgemeine Priestertum der Gläubigen geriet in Vergessenheit (1. Petr 2,5.9; Off 1,6), der freie Zugang der Gläubigen zu Gott wurde wieder verschlossen (Heb 10,19). Diese Zustände kennzeichnen bis heute den größten Teil der Christenheit. Schließlich kam es in jüngster Zeit sogar zu einer neuen Verwerfung des Herrn Jesus: die ewige Gottheit und die vollkommene Menschheit Christi, Seine wunderbare Geburt, Seine Wunder und Zeichen, Sein vollgültiges Sühnungs- und Erlösungswerk am Kreuz und Seine leibliche Auferstehung werden in der Christenheit weithin nicht mehr als heilsnotwendige Tatsachen geglaubt oder offen geleugnet. So wird Christus, das Haupt Seiner Versammlung, von solchen, die sich doch nach Seinem Namen „Christen" nennen, erneut verworfen. Die Christenheit, repräsentiert von den großen Welt- und Landeskirchen, trägt in mancher Hinsicht den gleichen Charakter wie das Judentum zur Zeit des Herrn Jesus. Es gibt also auch heute - wenn auch in anderer Weise als damals - in der Christenheit ein Lager, das von religiösen Formen gekennzeichnet und zum Teil bereits im offenen Abfall von Gott begriffen ist.

3. Absonderung

Wohl gibt es in diesen christlichen Einrichtungen, die dem jüdischen Lager gleichen, viele wahre Kinder Gottes. Sie sind in diesen menschlichen religiösen Systemen aufgewachsen und gefühlsmäßig damit verbunden. Sie sehen die Ungerechtigkeit, die sich in den menschlichen Eingriffen in die Ordnung Gottes und in den Angriffen gegen Ihn offenbart. Aber ihnen fehlt oft die Kraft und der Mut, den Schritt zu tun, der sie aus diesem Lager hinausführt. Vielleicht fürchten sie auch die Konsequenzen für ihr weiteres Leben und die Verachtung, die mit einem solchen Weg verbunden ist. Aber auch in der Anwendung auf unsere Zeit gilt für jeden Christen, der seinem Herrn treu sein und Ihm in Seiner Verwerfung nachfolgen möchte, die Aufforderung des Hebräerbriefes: „Deshalb laßt uns zu ihm hinausgehen, außerhalb des Lagers, seine Schmach tragend."

Auch den Gläubigen, die während der zukünftigen großen Drangsalszeit mit Babylon, der Hure, dem Bild der Kirche ohne Christus, in Verbindung stehen, wird zugerufen: „Gehet aus ihr hinaus, mein Volk, auf daß ihr nicht ihrer Sünden mitteilhaftig werdet, und auf daß ihr nicht empfanget von ihren Plagen; denn ihre Sünden sind aufgehäuft bis zum Himmel, und Gott hat ihrer Ungerechtigkeiten gedacht" (Off 18,4.5).

Bei vielen Christen ist das Wort „Absonderung" unbeliebt. Es klingt ihnen nach pharisäischer Überheblichkeit. Aber Gottes Wort sagt: „Darum gehet aus ihrer Mitte aus und rühret Unreines nicht an, und ich werde euch aufnehmen; und ich werde euch zum

Vater sein, und ihr werdet mir zu Söhnen und Töchtern sein, spricht der Herr, der Allmächtige" (2. Kor 6,17.18).

Der Platz bei dem Herrn, wo wir uns als Seine Erlösten in Seinem Namen versammeln und wo Er verheißen hat, in der Mitte zu sein, dieser Platz ist auch heute ein verachteter Ort. Hier wird dem Fleisch nichts geboten, hier wird dem Menschen kein Ehrenplatz eingeräumt, sondern alle Ehre und Autorität besitzt nur Der, zu dem wir hinausgehen dürfen: unser Erlöser und Herr.

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