Tu das Werk eines Evangelisten (FMN)

Lesezeit: 7 Min.
© Walter Thomas Prideaux Wolston, ein bekannter Evangelist des 19. Jahrhunderts

„Tu das Werk eines Evangelisten" (2. Tim. 4,5)

Um diese Aufforderung richtig zu verstehen, müssen wir zunächst den Zusammenhang bedenken und dann einen wichtigen Grundsatz anwenden.

Der Zusammenhang

Paulus befindet sich in Rom. Dieses Mal ist er nicht mehr „in einem gemieteten Haus" gefangen (Apg 28), sondern er sitzt in einem Kerker und wird dort wie ein Verbrecher behandelt. Er weiß, dass er nicht mehr lange zu leben hat und dass der Märtyrertod vor ihm steht. Aber er blickt auf Gott, der die Krone des Lebens für ihn bereithält, und schreibt einen Brief (seinen letzten inspirierten), um seinen jungen Freund und Mitarbeiter Timotheus zu ermuntern. Schon bald würde Timotheus auf eigenen Füßen stehen müssen - natürlich mit der Hilfe des Herrn, aber eben ohne den Rat und die Unterstützung des Apostels Paulus.

Timotheus scheint ein eher zurückhaltender und sensibler Typ gewesen zu sein; vielleicht auch einer, der schon mal etwas entmutigt war. Deshalb will Paulus ihn ermutigen. Er verweist ihn auf Jesus Christus, der Lebendige und Tote richten wird (V. 1) und (in demselben Vers) auf dessen Erscheinung in Herrlichkeit und auf sein Reich. Mit anderen Worten: Timotheus soll unbedingt auf Christus und auf die kommende Belohnung achten und seinen Dienst tun.

Der nächste Vers gibt uns ein weiteres Stichwort: „Predige das Wort, halte darauf, zu gelegener und ungelegener Zeit." Er soll sich nicht durch Widerstand beeindrucken lassen, sondern das Wort vorstellen und darauf bestehen, dass es beachtet wird.

Auch die Verse 3 und 4 zeigen den Gegenwind: Man will das Wort nicht mehr ertragen und bevorzugt alles Mögliche (Fabeln oder irgendwelche Lehren, die „in den Ohren kitzeln", d.h. angenehm sind, weil sie schmeicheln und nicht das Gewissen ansprechen).

Aber das alles soll Timotheus nicht entmutigen. Für ihn gilt: „Du aber" - das heißt: Was jetzt gefragt ist, ist persönliche Treue, und zwar konkret in Bezug auf vier Punkte (V. 5):

  • Sei nüchtern!
  • Leide Trübsal!
  • Tu das Werk eines Evangelisten!
  • Vollführe Deinen Dienst!

Timotheus sollte die Dinge klar sehen („nüchtern"), er sollte bereit sein, für das Evangelium zu leiden. Zudem sollte er sich nicht davon abhalten lassen, seinen Dienst auszuführen.

Gerade dieser letzte Punkt in Verbindung mit dem dritten legt nahe, dass Timotheus tatsächlich Evangelist war. Es ging nicht darum, plötzlich etwas ganz anderes zu tun oder den Dienst eines anderen zu tun, sondern es ging um den Dienst, den der Herr Timotheus anvertraut hatte. Dass der Herr ihm diesen Dienst gegeben hatte, wusste Timotheus so gut wie Paulus. Ob er ihn trotz allen Widerstands und aller Hindernisse ausführen würde, das war nun die Frage (und wir gehen davon aus, dass Timotheus die Aufforderung beherzigte).

Ein wichtiger Grundsatz

Der Herr will uns im Dienst für Ihn gebrauchen - aber zugleich gibt Er uns die Fähigkeit dazu, diesen Dienst auszuführen. Er teilt Talente aus, sonst hätten die Knechte nicht handeln können (Mt 25,14-30). Er gibt die Gaben, die wir für Ihn einsetzen dürfen. Besonders deutlich sehen wir das in Römer 12:

„Da wir aber verschiedene Gnadengaben haben:

  • es sei Weissagung, so lasst uns weissagen;
  • es sei Dienst, so lasst uns bleiben im Dienst;
  • es sei, der da lehrt, in der Lehre;
  • es sei, der da ermahnt, in der Ermahnung (Röm 12,6-8).

Die Anweisung ist glasklar: Wir sollen das tun, wozu der Herr uns ausgerüstet hat. Mit anderen Worten: Wenn der Herr uns eine Aufgabe gibt, gibt Er auch die dazu benötigte geistliche Befähigung.

Der Gedanke, eine Arbeit zu tun, ohne die dafür notwendige Gabe bekommen zu haben, ist der Bibel fremd (s. auch Kol 4,17).

Und wenn ich kein Evangelist bin?

Wenn ich kein Evangelist bin, darf ich dennoch aus diesem Vers lernen:

1. Auch für mich gilt, dass ich meine Aufgaben tun soll, die der Herr mir gegeben hat. Ich soll mich nicht durch Hindernisse oder Widerstand davon abhalten lassen (s. Pred 11,4).

2. Umgekehrt gilt: Ich sollte nicht versuchen, einen Dienst zu tun, für den ich nicht ausgerüstet bin. Natürlich kann und soll eine geistliche Befähigung im Lauf der Zeit noch wachsen und reifen, aber der Grundsatz ist, dass wir das benutzen, was wir haben, nicht versuchen das zu sein, was wir für erstrebenswert halten („Was ist in deiner Hand?" (2. Mo 4,2) und „Sage mir, was du im Haus hast" (2. Kön 4,2)).

Aber darf ich denn nicht das Evangelium weitersagen?

Natürlich dürfen wir das Evangelium weitersagen - wir sollen es sogar tun - auch wenn wir nicht Evangelisten sind. Nur ist das dann nicht das Werk eines Evangelisten, sondern das Zeugnis eines Nicht-Evangelisten. Eine passendere Bibelstelle dafür ist 1. Petrus 3,15: „Seid aber jederzeit bereit zur Verantwortung gegen jeden, der Rechenschaft von euch fordert über die Hoffnung, die in euch ist". Dazu sollten wir alle bereit sein, nicht nur Evangelisten - und das nicht nur ab und zu, sondern „jederzeit".

Dazu gibt es viele Gelegenheiten - auch noch in unserer modernen westlichen Welt, wo das Thema Religion immer mehr „tabu" ist und man leicht beschuldigt wird, Werbung für eine Sekte zu machen. Das fällt uns nicht leicht, aber man ist immer glücklicher, wenn man eine solche Situation ausnutzt, statt sie zu verpassen.

Einige Anregungen

Wir können nicht in der Schule oder bei der Arbeit erscheinen und sagen: „So, hört bitte alle mal zu, ich will Euch jetzt erklären, warum ihr an Christus glauben müsst". Das wäre weder die richtige Zeit noch der richtige Ort noch die richtige Art. Aber wir können Fragen beantworten. Die anderen wollen gern wissen, was ihr am Wochenende gemacht habt, welche Musik ihr hört; etc.

Manchmal sind sie auch betroffen, zum Beispiel, wenn ein(e) Freund(in) oder ein Verwandter gestorben ist. Plötzlich steht die Frage nach dem Sinn des Lebens im Raum. Dasselbe gilt für manche Tagesthemen, die nachdenklich stimmen.

Schön ist auch, wenn Menschen, mit denen wir zu tun haben, etwas an uns bemerken, das anders ist (z. B. dass wir nicht lügen; oder auch, dass wir eine Freude haben, die sie nicht kennen). Dann kann sich leicht ein Gespräch ergeben.

Erfahrungsgemäß kommen solche Gespräche leichter „eins zu eins" zu Stande als in einer Gruppe. Das liegt daran, dass die Menschen dann ehrlicher sind, als wenn andere dabei sind, vor denen sie die Maske nicht herunterlassen wollen (d. h. nicht zugeben wollen, dass sie Fragen zum Glauben haben). Interessant ist, dass der Herr Jesus sich auch oft detailliert mit Einzelpersonen befasst hat - man denke an Nikodemus (Joh 3), die Frau in Samaria (Joh 4) oder den blindgeborenen Mann (Joh 9).

Aus diesen Anregungen geht auch hervor, dass wir oft den Zeitpunkt für ein gutes Gespräch nicht bestimmen können. Es geht eben darum, „bereit" zu sein, Rechenschaft abzulegen von unserem Glauben (ich spiele hier wieder auf den Vers in 1. Petrus 3 an).

Außerdem gibt es Möglichkeiten, das Evangelium systematisch zu verbreiten, zum Beispiel durch Traktate, Flyer, evangelistische Broschüren oder Kalender. Ein geeigneter Link unter unserer E-Mail-Unterschrift, beispielsweise zu einer evangelistischen Internetseite, kann auch Wegweiser sein.

Viele haben ein Smartphone. Das bietet ebenfalls Möglichkeiten: Man kann beispielsweise eine Bibel-App installieren. Irgendwann sehen eure Freunde / Kollegen das und schon ergibt sich ein Gespräch ... (vielleicht nicht sofort, aber das Signal wird wahrgenommen). Man kann auch mal im Bus oder in der Pause ein „Folge mir nach" Heft durchblättern oder es auf dem Tisch liegen lassen ... Die Fragen kommen dann schneller als man denkt!

Manchmal kann man auch eine der vielen Redewendungen, die aus der Bibel stammen, in eine Unterhaltung einfließen lassen (das Graben einer Grube für einen anderen, seine Hände in Unschuld waschen, sein Licht unter den Scheffel stellen etc.). Nebenbei bemerkt: Man sieht daran, wie viel die Bibel früher gelesen wurde und wie nachhaltig sie unsere Sprache beeinflusst hat. Heute gebrauchen viele diese Ausdrücke, oft ohne zu wissen, dass sie aus der Bibel stammen. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, können wir solch eine Redewendung so aufgreifen, dass sich die Unterhaltung vertieft oder in eine gute Richtung gelenkt wird.

Auch Einladungen kann jeder von uns aussprechen. Dazu muss man kein Evangelist sein. Andreas sprach mit seinem Bruder Petrus und „führte ihn zu Jesus" (Joh 1,42). Philippus sagte zu Nathanael: „Komm und sieh" (Joh 1,44). Und ein entführtes Mädchen erwähnt bei passender Gelegenheit den „Propheten, der zu Samaria wohnt" (2. Kön 5,3).

Schließlich, und damit sind wir wieder bei 2. Timotheus 4,5, dürfen wir auch für die beten, die tatsächlich die Gabe eines Evangelisten empfangen haben. Wir geben ihnen dadurch Unterstützung und Rückendeckung, damit sie „das Werk eines Evangelisten" mit ganzer Kraft und der Hilfe des Herrn Jesus ausführen.

Zusammenfassung

Die Möglichkeiten sind immer noch vielfältig - selbst heute, wo das Thema Glaube immer weniger eine Rolle spielt. Die Menschen sind noch immer neugierig und der Gedanken an die Ewigkeit liegt in ihren Herzen (Pred 3,11). Wenn auch das Werk eines Evangelisten von Evangelisten getan wird, dürfen wir doch das Werk des Evangelisten (durch Gebet und auch praktisch) unterstützen. Darüber hinaus können wir Zeugnis ablegen. Dazu sollten wir immer bereit sein (1. Petr 3,15).

Folge mir nach - Heft 5/2016

© Walter Thomas Prideaux Wolston, ein bekannter Evangelist des 19. Jahrhunderts
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