Selbstständige Ortsgemeinden?

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Die Vorstellung einer weitestgehend selbstständigen Ortsgemeinde entspricht nicht dem Neuen Testament. Davon ist der Professor für Neues Testament am Theologischen Seminar Elstal (FH), André Heinze, überzeugt. Die Gemeinden im Neuen Testament hätten in enger Gemeinschaft und Verbindung gelebt. Trotz einer gewissen Selbstständigkeit hätten sie enge Kontakte zu Autoritätspersonen gehabt, deren Meinung in Lehrfragen und bei Konflikten im Gemeindeleben als Richtlinie für das Handeln gefragt gewesen sei. Gemeinden, die sich heute einer solchen Gemeinschaft zu anderen Gemeinden entzögen, hätten eine „bedenkliche Nähe zum Sektierertum", meinte Heinze. Statt auf eine Autonomie zu pochen, gelte es, sich für andere Gemeinden zu öffnen, gemeinsam an Projekten zu arbeiten, sich miteinander gesellschaftlichen Herausforderungen zu stellen und auch in theologischen Fragen die Bereitschaft zu Hilfe und Korrektur zu entwickeln.

Wenn wir zu diesen Thesen einmal ins Neue Testament schauen, werden wir feststellen:

  1. "Eine gewisse Selbstständigkeit" ist tatsächlich im Blick auf die neutestamentliche, örtliche Gemeinde gegeben. Nach Matthäus 18,18 hat die örtliche Gemeinde die Aufgabe und Kompetenz zum Binden und Lösen. Sie nimmt Kinder Gottes als Glieder des einen Leibes in die praktische Gemeinschaft der örtlichen Gemeinde auf und schließt diese von dieser praktischen Gemeinschaft aus, wenn sie nach 1. Korinther 5 in Sünde leben, nach 2. Johannes 7-11 einer falschen Lehre über die Person des Herrn Jesus anhängen bzw. nach 1. Korinther 10,17 und 2. Johannes 11 Gemeinschaft mit in Sünden lebenden Personen pflegen. In dieser Hinsicht hat die Ortsgemeinde wirklich eine „gewisse Selbstständigkeit", auch wenn man keine entsprechende Bezeichnung im Neuen Testament findet.

  2. Die Beziehung zu Autoritätspersonen - im besten Sinn verstanden, also zu Evangelisten, Hirten und Lehrern nach Epheser 4,11 - ist tatsächlich auch heute von großer Bedeutung. Diese „Nähe" sollten wir nie aufgeben. Wir sollten uns ihrem Besuch nicht entziehen.

  3. In der neutestamentlichen Zeit gab es keine unterschiedlichen Gemeindearten, sondern die weltweite Gemeinde (Versammlung, Kirche) war eins. Wir finden dort also keine Hinweise, wie man inter-gemeindlich vorgehen kann. Das das Neue Testament nur die eine weltweite Gemeinde kennt, nicht aber verschiedene, sollte der erste Schritt sein, „eigene" Gemeinden aufzulösen - denn was für eine Berechtigung hat eine Gemeinde neben der weltweiten, einen Gemeinde Gottes, die aus allen Erlösten besteht?

  4. Nähert man sich dadurch in bedenklicher Weise dem Sektierertum, dass man sich der Gemeinschaft mit anderen Gemeinden entzieht? Das kann gar nicht sein, weil das Neue Testament nur Ortsgemeinden kennt, die auf derselben biblischen Basis zusammenkommen und daher zusammengehören. Wie unter 3) gesehen, gibt es im Sinne der Bibel keine unterschiedlichen Gemeindearten und damit auch keine Gemeinschaft über Gemeinden hinweg. Ich jedenfalls lehne für mich ab, einer anderen Gemeinde als derjenigen anzugehören, zu der alle Christen in Darmstadt (oder Riedstadt) gehören. Daher ist das örtliche Zusammenkommen, das ich in Darmstadt besuche, auch keine Gemeinde, denn damit würde ich tatsächlich eine Gemeinde neben anderen manifestieren und die eine Gemeinde, den einen Leib, das eine Haus, zerteilen und zerstören.

  5. Kann man die im Neuen Testament zu findende Gemeinschaft und Einheit der Gemeinde (vgl. Eph 4,3.4) denn noch verwirklichen? Ich glaube ja. Es geht darum, dass wir das, was wir im Neuen Testament über die eine Gemeinde lernen, ernst nehmen und verwirklichen. Und dann können wir diese Einheit zwar nicht mit allen Erlösten darstellen (nicht, weil das an und für sich unmöglich ist, sondern deshalb, weil sich viele Gläubige heute nicht aus ihren Gemeinden lösen wollen, siehe Punkt 3) und daher der eine Weg praktisch nicht mehr offen zu stehen scheint), aber mit allen denen, die den Herrn aus reinem Herzen anrufen (vgl. 2. Tim 2,22). Nicht die Gemeinschaft über Gemeindegrenzen hinweg ist anzustreben, denn damit sucht man Einheit auf Kosten der Wahrheit, es ist letztlich keine ehrliche Einheit, sondern Gemeinschaft in der einen weltweiten Gemeinde auf der Grundlage des Wortes Gottes: Das ist der Wunsch, den wir im Herzen und in der Praxis bewahren sollten. Wir sollten - wie Hiskia - nicht den Wunsch und die Energie aufgeben, ein Herz für alle Erlösten zu bewahren und möglichst viele von ihnen zu erreichen. Das ist auch heute noch möglich.
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